Agil? Schön ordentlich bitte!

Von Lenin stammt die lei­der nicht ganz von der Hand zu wei­sen­de Fest­stel­lung: „Revo­lu­ti­on in Deutsch­land? Das wird nie etwas, wenn die­se Deut­schen einen Bahn­hof stür­men wol­len, kau­fen die sich noch eine Bahn­steig­kar­te!“ Wir sind bekannt und geschätzt für Tugen­den wie Fleiß, Gewis­sen­haf­tig­keit und Ord­nungs­sinn. Auch wenn wir es manch­mal damit über­trei­ben, die Über­re­gu­lie­rung und Ent­mün­di­gung bekla­gen und dann Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung for­dern, unser Ver­hält­nis zu krea­ti­ver Viel­falt ist eher ange­spannt. Schön ordent­lich ist uns lie­ber. Ohne es wis­sen­schaft­lich über­prüft zu haben, wür­de ich ver­mu­ten, dass die meis­ten Rasen­kan­ten in Deutsch­land ver­kauft und ver­legt wer­den. Es muss eben alles sei­ne Ord­nung haben. Auch das Stre­ben nach Agi­li­tät, was dann aber in die Kate­go­rie „Wasch‘ mich, aber mach mich nicht nass!“ fällt.

Agi­li­tät auf Orga­ni­sa­ti­ons­ebe­ne bedeu­tet Anpas­sungs­fä­hig­keit und Reak­ti­ons­schnel­lig­keit. Ein zen­tra­les Prin­zip dabei ist die Kun­den­ori­en­tie­rung durch Dezen­tra­li­sie­rung. Teams arbei­ten mög­lichst nahe am Kun­den und erbrin­gen Wert­schöp­fung mög­lichst auto­nom. Die Teams der Pfle­ge­or­ga­ni­sa­ti­on Buurtz­org oder die Mini-Fabri­ken bei FAVI lie­fern dafür gute Bei­spie­le. Die­se Auto­no­mie – und damit die Agi­li­tät – kann aber nur gelin­gen, wenn die­sen Teams ein genü­gend gro­ßer Spiel­raum zuge­stan­den wird. Und das bedeu­tet in letz­ter Kon­se­quenz, eine prin­zi­pi­el­le Unter­schied­lich­keit der Arbeits­wei­sen der Teams. Das ist kein Feh­ler und muss nicht geord­net werden.

Jeder Narr kann Regeln auf­stel­len und jeder Tor wird sich danach richten.
Hen­ry David Thoreau

Zwi­schen theo­re­ti­scher Erkennt­nis und prak­ti­scher Umset­zung lie­gen in unse­ren Unter­neh­men, in denen es nicht sel­ten Unter­wei­sun­gen zum rich­ti­gen Gebrauch des Hand­laufs an der Trep­pe gibt, aller­dings Wel­ten. Sobald die ers­ten Teams agil arbei­ten und von Retro­spek­ti­ve zu Retro­spek­ti­ve ihre Arbeits­wei­se und ihre Werk­zeu­ge immer mehr indi­vi­dua­li­sie­ren, wird der Ruf nach Ord­nung laut. Dann wer­den Vor­la­gen für User Sto­ries defi­niert, die Defi­ni­ti­on of Done ver­ein­heit­licht und JIRA mit ein­heit­li­chen Work­flows ver­pflich­tend für alle ein­ge­führt, um nur eini­ge Bei­spie­le zu nen­nen. Sobald meh­re­re Teams an mehr oder weni­ger zusam­men­hän­gen­den Pro­duk­ten arbei­ten, sehnt man sich nach Gleich­schritt und Kon­for­mi­tät. Dann wird Scrum für alle zur Pflicht und der Sprint­takt syn­chro­ni­siert: Mon­tag 9 – 10 Uhr: Sprint-Plan­ning für alle Teams und Dai­ly Mee­ting alle Teams jeden Tag um 11:30 Uhr.

Men­schen brau­chen weder einen völ­lig über­re­gu­lier­ten All­tag noch Scheinprinzipien.
Lars Voll­mer

Im Wan­del zu mehr Agi­li­tät wird das Span­nungs­feld zwi­schen Auto­no­mie und Indi­vi­dua­li­tät einer­seits und Gehor­sam und Kon­for­mi­tät ande­rer­seits neu ver­han­delt. Zu Recht bekla­gen vie­le wie Lars Voll­mer die Über­re­gu­lie­rung unse­res Arbeits­all­tags und wie Rein­hard K. Spren­ger über­grif­fi­ge und ent­mün­di­gen­de Prak­ti­ken in unse­ren Orga­ni­sa­tio­nen. Die agi­le Trans­for­ma­ti­on muss not­wen­di­ger­wei­se zu einer Dere­gu­lie­rung, Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung und zu mehr Indi­vi­dua­li­tät füh­ren. Natür­lich brau­chen und haben auch agi­le Orga­ni­sa­tio­nen einen Ord­nungs­rah­men. Der besteht aber zual­ler­erst aus star­ken gemein­sa­men Prin­zi­pi­en und das agi­le Mani­fest bie­tet dafür einen guten Start­punkt. Inner­halb die­ses Rah­mens erge­ben sich dann aus dem offe­nen Aus­tausch der Teams auch nach und nach ein gemein­sa­me als sinn­voll erach­te­tes Regel­werk für die Zusam­men­ar­beit. Nach und nach wohl­ge­merkt und stän­dig im Wan­del als Ergeb­nis der gemein­sa­men Bemü­hung best­mög­lich zusammenzuarbeiten.

Erwach­se­ne Leu­te orga­ni­sie­ren Fami­li­en, sie bau­en Häu­ser, sie über­neh­men Ver­ant­wor­tung in Ver­ei­nen, fäl­len ver­nünf­ti­ge und zukunfts­ori­en­tier­te Ent­schei­dun­gen. Doch in dem Augen­blick, in dem sie durch die Pfor­te des Unter­neh­mens tre­ten, wer­den sie infan­ti­li­siert und ent­mün­digt, dass ich manch­mal fas­sungs­los bin. Man ver­sucht sie zu erzie­hen, etwa durch über­grif­fi­ge Maß­nah­men zur Gesund­heits­för­de­rung, durch Sinn­stif­tung, durch Iden­ti­fi­ka­ti­ons-Gerau­ne, Wohl­fühl-Klim­bim und Füh­rungs­stil-Päd­ago­gik. Und dann wird die­se Ent­mün­di­gung als Für­sor­ge etikettiert.
Rein­hard K. Spren­ger im Inter­view bei Impulse

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

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