Agile Organisationen: Entkalken vor Skalieren

Agile Orga­ni­sa­tio­nen sind schlank, fle­xi­bel und anpas­sungs­fä­hig. Das geschieht aber weni­ger durch die „Agi­li­sie­rung“ bestehen­der Struk­tu­ren und Abläu­fe, son­dern durch kon­se­quen­tes Hin­ter­fra­gen eben die­ser. Anstatt im Sti­le der kogni­ti­ven Ver­zer­rung von Maslows Ham­mer in allem einen Nagel zu sehen und mit schö­nen neu­en agi­len Metho­den drauf­zu­hau­en, lau­tet die Devi­se „Ent­kal­ken vor Ska­lie­ren“ oder im Eng­li­schen noch schö­ner: „Don’t sca­le agi­le – des­ca­le your organization!“

Theater ohne Wirkung

Auf der Ebe­ne des ein­zel­nen Teams oder weni­ger Teams, die an einem gemein­sa­men Pro­dukt arbei­ten ist Agi­li­tät noch recht klar und ein­fach. Scrum als das bekann­tes­te und meist genutz­te metho­di­sche Rah­men­werk dazu ist im Scrum Gui­de gut ver­ständ­lich beschrie­ben und prak­tisch erprobt. Span­nend wird es wenn es dar­über hin­aus geht und über Jahr­zehn­te gewach­se­ne und ver­krus­te­te tay­lo­ris­ti­sche Orga­ni­sa­tio­nen ver­su­chen, agi­ler zu wer­den. Mit etwas Abstand betrach­tet pas­siert dann oft das Richard Feyn­man als „Car­go-Kult“ beschrieb: Thea­ter ohne Wir­kung.

In the South Seas the­re is a car­go cult of peo­p­le. During the war they saw air­planes land with lots of good mate­ri­als, and they want the same thing to hap­pen now. So they’ve arran­ged to imi­ta­te things like run­ways, to put fires along the sides of the run­ways, to make a woo­den hut for a man to sit in, with two woo­den pie­ces on his head like head­pho­nes and bars of bam­boo sti­cking out like anten­nas — he’s the con­trol­ler — and they wait for the air­planes to land. They’re doing ever­y­thing right. The form is per­fect. It looks exact­ly the way it loo­ked befo­re. But it doesn’t work. No air­planes land. So I call the­se things car­go cult sci­ence, becau­se they fol­low all the appa­rent pre­cepts and forms of sci­en­ti­fic inves­ti­ga­ti­on, but they’re miss­ing some­thing essen­ti­al, becau­se the pla­nes don’t land.

Richard Feyn­man, 1974

Das Gesetz des Werkzeugs

Da hat also jemand am obe­ren Ende der Hier­ar­chie der Orga­ni­sa­ti­on ent­schie­den, dass man ab sofort agil sein will. Klingt vor dem Hin­ter­grund von VUCA und Digi­ta­li­sie­rung auch ganz plau­si­bel und gegen ein biss­chen mehr Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und Eigen­ver­ant­wor­tung in der der gan­zen gewach­se­nen Büro­kra­tie hat auch kei­ner etwas ein­zu­wen­den. Man macht sich also auf den Weg, liest Bücher, besucht Trai­nings, erwirbt Zer­ti­fi­zie­run­gen, beschäf­tigt Heer­scha­ren von Coa­ches und Bera­tern, besich­tigt Spo­ti­fy, bereist das Sili­con Val­ley und so weiter.

Nach und nach wird dann alles auf links gekrem­pelt und auf agil umge­stellt. Wohl­ge­merkt meist ohne sub­stan­ti­ell an die Struk­tur der Orga­ni­sa­ti­on und an die gewohn­ten Abläu­fe zu gehen. Agi­le Pro­jek­te füh­ren nicht zu agi­len Orga­ni­sa­tio­nen, wenn sie in ver­krus­te­te Struk­tu­ren ein­ge­bet­tet sind von der Geneh­mi­gung des Pro­jekts bis zu den obli­ga­to­ri­schen Lenkungskreisen.

Um dem gan­zen lah­men Zir­kus ein wenig mehr agi­les Leben ein­zu­hau­chen ohne frei­lich zum Äußers­ten zu gehen, wird alles agi­li­siert – egal wie gut es sich dafür eig­net. Aus Gre­mi­en wer­den dann agi­le Gre­mi­en, die in Sprints oder mit Kan­ban arbei­ten. Und auch das Pro­zess­mo­dell bekommt einen Pro­duct-Owner und Teams. Fertig.

Ich glau­be, es ist ver­lo­ckend, wenn das ein­zi­ge Werk­zeug, das man hat, ein Ham­mer ist, alles zu behan­deln, als ob es ein Nagel wäre.

Abra­ham Maslow

Die­se per­fi­de Form die­ses Car­go-Kults beruht auf einer kogni­ti­ven Ver­zer­rung, die Gesetz des Werk­zeugs (Law of the Instru­ment) oder eben auch Maslows Ham­mer heißt. Die schö­nen neu­en agi­len Metho­den wer­den über bestehen­de Struk­tu­ren und Abläu­fe gestülpt ohne die­se zu hin­ter­fra­gen und im Sin­ne der Kun­den­ori­en­tie­rung und des Flus­ses im Wert­strom neu zu den­ken. Dann näm­lich wäre der rich­ti­ge Schluss, dass es die­se Gre­mi­en viel­leicht gar nicht braucht und das Pro­zess­mo­dell von den­je­ni­gen die dar­in arbei­ten als Com­mu­ni­ty in geeig­ne­ter(!) Wei­se wei­ter­ent­wi­ckelt wird.

Some­thing is wrong if workers do not look around each day, find things that are tedious or bor­ing, and then rewri­te the pro­ce­du­res. Even last month’s manu­al should be out of date.

Tai­i­chi Ōno

Foto: Russ Hendricks

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

4 Kommentare

Sehr schö­ne Aus­füh­rung zu die­ser Aus­prä­gung des Car­go Kults – den Mit­ar­bei­ter eini­ger gro­ßer Orga­ni­sa­tio­nen wie­der erken­nen dürften.
Der Arti­kel erklärt, war­um die Ein­füh­rung agi­ler Metho­den in die­sen Orga­ni­sa­tio­nen nicht den gewünsch­ten Effekt erreichen.
Mir fehlt jedoch ein posi­ti­ver Aspekt, den es bei die­ser Art der Agi­li­täts-Ein­füh­rung durch­aus gibt: Durch den Chan­ge, auch wenn er die Füh­rungs-Struk­tu­ren nicht modi­fi­ziert, wer­den Res­sour­cen benö­tigt und es ent­steht Unsi­cher­heit. Dadurch wer­den die bestehen­den Regu­la­to­ri­en nicht mehr voll­um­fäng­lich durch­ge­setzt. D.h. für den (Wissens-)Arbeiter erge­bens sich nun Frei­hei­ten, die durch das Kor­sett aus Regeln/Anweisungen/… schon län­ger nicht mehr vor­han­den waren. Ist an der Basis in die­ser Situa­ti­on ein pas­sen­des Mind­set vor­han­den, kön­nen die Frei­hei­ten im Sin­ne des agi­len Mani­fests genutzt wer­den -> eine loka­le Ver­bes­se­rung tritt ein.

Am schöns­ten und gru­se­ligs­ten wird es, wenn die eige­nen MA im All­tag „ertrin­ken“ und des­halb die Prak­ti­kan­ten wich­ti­ge Pro­jek­te aus­füh­ren, ohne jede Kennt­nis der Fir­ma. Führt zu unge­ahn­ter Frus­tra­ti­on bei den MA, die neben den All­tags­trott eben genau sol­che Pro­jek­te gern machen wür­den und 1000 Ideen haben…

Haben kei­ne Zeit die Axt zu schär­fen, müs­sen Holz machen … Haben uns ver­lau­fen, kom­men aber gut vor­an. Es ist immer dasselbe.

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