Disziplin jenseits des Gehorsams

Kinder sind groß­ar­tig. Zuwei­len auch eine groß­ar­ti­ge Her­aus­for­de­rung. Ehr­lich gesagt sind unse­re bei­den Töch­ter das sogar jeden Tag – mehr­fach. Ihren unbän­di­gen Wunsch nach Selbst­be­stim­mung zei­gen gera­de klei­ne Kin­der völ­lig unge­hemmt. Ins­be­son­de­re dann wenn wir als Eltern aus guten Grün­den oder weil die Zeit drängt über sie bestim­men wol­len und Gehor­sam for­dern. Auf unse­re Dro­hun­gen und Mani­pu­la­ti­ons­ver­su­che reagie­ren sie aber umso kon­se­quen­ter mit Ver­wei­ge­rung je nach­drück­li­cher wir sie vor­brin­gen. Das ist anstren­gend, aber im Kern auch gut so, denn es geht eben nicht um Gehor­sam und Unter­ord­nung, son­dern Eigen­ver­ant­wor­tung und (Selbst-)Disziplin – weder in der Erzie­hung von Kin­dern noch in ande­ren Führungssituationen.

Der Gehorsam

Gehor­sam‘ soll bedeu­ten: dass das Han­deln des Gehor­chen­den im wesent­li­chen so abläuft, als ob er den Inhalt des Befehls um des­sen selbst wil­len zur Maxi­me sei­nes Ver­hal­tens gemacht habe, und zwar ledig­lich um des for­ma­len Gehor­sams­ver­hält­nis­ses hal­ber, ohne Rück­sicht auf die eige­ne Ansicht über den Wert oder Unwert des Befehls als solchen.

Max Weber

Gehor­sam hat in Deutsch­land eine lan­ge Tra­di­ti­on. Lenin wird der Aus­spruch zuge­schrie­ben, dass es in Deutsch­land nie eine Revo­lu­ti­on geben wür­de, weil die Deut­schen noch eine Bahn­steig­kar­te kauf­ten, bevor sie den Bahn­hof stürm­ten. Nicht weni­ger spöt­tisch, dafür aber deut­lich aus­ge­schmück­ter beschrieb Hein­rich Mann im 1914 fer­tig­ge­stell­ten Roman „Der Unter­tan“ sei­nen Prot­ago­nis­ten Diede­rich Heß­ling als obrig­keits­hö­ri­gen, natio­na­lis­ti­schen Mit­läu­fer und Kon­for­mis­ten. Er buckelt brav nach oben und tritt dafür umso mehr nach unten und wird gera­de des­we­gen beliebt und erfolgreich.

Am Geburts­tag des Ordi­na­ri­us bekränz­te man Kathe­der und Tafel. Diede­rich umwand sogar den Rohrstock.

Hein­rich Mann: Der Untertan.

Unge­ach­tet der klei­nen und gro­ßen Aus­wüch­se blin­den Gehor­sams in unse­rer Geschich­te, ziel­te Erzie­hung lan­ge Zeit auf Gehor­sam ab, zuerst gegen­über den Eltern, dann gegen­über den Leh­rern, dem Pfar­rer, dem Bür­ger­meis­ter und ande­ren Auto­ri­tä­ten und schließ­lich gegen­über dem Chef. Die­se Hal­tung stirbt lei­der nicht aus. Im Gegen­teil erlebt sie durch Autoren wie Bern­hard Bueb und sei­nem Buch „Lob der Dis­zi­plin“ (das eigent­lich „Lob des Gehor­sams“ hei­ßen müss­te, was sich aber aus nahe­lie­gen­den Grün­den wohl nicht so gut ver­kauft hät­te) neue Höhen­flü­ge. Und wäh­rend die einen, allen vor­an die Bou­le­vard-Pres­se, Bueb als „Deutsch­lands strengs­ten Leh­rer“ fei­er­ten, kri­ti­sier­ten vie­le Ver­tre­ter der Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten sei­ne Streit­schrift als rück­wärts gewand­te und unge­hemmt tota­li­tä­re schwar­ze Pädagogik.

Die Disziplin

Dis­zi­plin erhält man durch Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und Eigen­ver­ant­wor­tung, durch Dis­zi­pli­nie­rung bekommt man nur Gehorsam.

Gerald Hüt­her

Das latei­ni­sche disci­plī­na lei­tet sich ab von disci­pu­lus, was ‚Schü­ler‘ oder ‚Lehr­ling‘ heißt, und meint zunächst nur ‚Schu­le‘, ‚Unter­richt‘ oder auch ‚Wis­sen­schaft‘. Ler­nen erfor­dert eben Dis­zi­plin im Sin­ne von Durch­hal­te­ver­mö­gen. Den Bei­geschmack der Zucht und (Unter-)Ordnung hat der Begriff der Dis­zi­plin erst im Lau­fe der Zeit bekom­men. Der Hirn­for­scher Gerald Hüt­her unter­schei­det daher auch sprach­lich klar zwi­schen Dis­zi­pli­nie­rung, die durch Ver­mei­dung von nega­ti­ven Kon­se­quen­zen den Gehor­sam zum Ziel hat, und ech­ter Dis­zi­plin im Sin­ne von Selbst­dis­zi­plin und Eigen­ver­ant­wor­tung, deren Ursprung also in uns selbst liegt.

Kin­der sind in die­sem Punkt genau wie Erwach­se­ne: Wir wol­len, wenn irgend mög­lich, gern koope­rie­ren, aber wir haben es nicht gern, wenn wir durch Mani­pu­la­ti­on dazu gebracht werden.

Jes­per Juul

Die Auf­ga­be von Erzie­hung und von Füh­rung im All­ge­mei­nen ist es, die­se Selbst­dis­zi­plin her­vor­zu­lo­cken und zu för­dern. Weder kann und will ich als Vater immer neben mei­nen Kin­dern mit erho­be­nen Zei­ge­fin­ger ste­hen und Fehl­ver­hal­ten bestra­fen noch kann und will ich als Füh­rungs­kraft jeden Hand­griff kon­trol­lie­ren. In bei­den Situa­tio­nen will und muss ich dar­auf ver­trau­en, dass eigen­stän­dig rich­tig gehan­delt wird im Sin­ne des Gan­zen. Und in bei­den Situa­tio­nen ist es mei­ne Ver­ant­wor­tung zur Dis­zi­plin anzu­re­gen und zu befä­hi­gen ohne zu beleh­ren oder zu bestrafen.

Die Hälf­te des Lebens ist Glück, die ande­re Dis­zi­plin – und die ist ent­schei­dend; denn ohne Dis­zi­plin kann man mit sei­nem Glück nichts anfangen.

Carl Zuck­may­er 

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

2 Kommentare

Hal­lo Marcus,
Du nutzt und zitierst in die­sem Blog­bei­trag das Wort Dis­zi­plin, auch in der Vari­an­te Selbst­dis­zi­plin. Das hat mich an etwas erinnert.
Vor ein paar Mona­ten war ich Teil­neh­mer in einer Run­de und wir hat­ten ein Port­fo­lio ent­wi­ckelt in dem Selbst­di­zi­plin in einem Qua­drant stand.
Nach eini­gen Dis­kus­sio­nen fan­den wir den Begriff ‚Selbst­füh­rung‘ viel pas­sen­der. Er ver­mei­det den in DE nega­tiv besetz­ten Wort­be­stand­teil Dis­zi­plin, den wir häu­fig mit einem Ein­fluß / einer Vor­ga­be von außen asso­zi­ie­ren und weist auf die eigent­lich benö­tig­te Tätig­keit und Fähig­keit hin.
Aus dem o.g. Umfeld habe ich auch die Aus­sa­ge mit­ge­nom­men, daß man nur einen Men­schen auf die­ser Welt füh­ren kann – sich selbst.

Sehr schö­ne Dif­fe­ren­zie­rung, Mar­co. Es geht um Selbst­füh­rung. Die Aus­sa­ge, dass man eigent­lich nur sich selbst füh­ren kann, fin­det sich schon bei Peter Dru­cker und in ähn­li­cher Form bei Anselm Grün. Genau um die­se Selbst­füh­rung geht es – in der Erzie­hung von Kin­dern genau­so wie im Unter­neh­men. Dar­um sag­te Götz W. Wer­ner auch, dass Füh­rung nur noch legi­tim sei, wenn sie die Selbst­füh­rung der ihr anver­trau­ten Mit­ar­bei­ter zum Ziel hätte.

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