2024 – Kafka trifft Orwell

Der Auf­takt zu einem dys­to­pi­schen Roman über die Absur­di­tät des über­wach­ten All­tags vier Jah­re nach Aus­bruch der gro­ßen Pandemie.

Jemand muss­te Josef K. ver­leum­det haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hät­te, wur­de er eines Mor­gens in Qua­ran­tä­ne geschickt. Er lag noch im Bett, als die amt­li­che Nach­richt in sei­ner Gesund­heits-App erschien. Bis zum Ein­tref­fen der Behör­den soll­te er zum Schut­ze der All­ge­mein­heit sei­ne Woh­nung nicht mehr ver­las­sen, hieß es dar­in. Ihm war ohne­hin nicht nach auf­ste­hen zumu­te, es waren ges­tern wohl doch ein oder zwei Glä­ser Wein zu viel gewe­sen auf sei­ner klei­nen Geburtstagsfeier. 

Viel­leicht war die Unter­hal­tung mit dem Nach­barn, den er ges­tern auf dem Heim­weg getrof­fen hat­te, wegen sei­ner aus­ge­las­se­nen Stim­mung zu laut oder zu kri­tisch oder ein­fach nur zu lang gewe­sen. Schließ­lich war der Nach­bar den Behör­den ein­schlä­gig bekannt und wegen sei­ner kri­ti­schen Hal­tung schon mehr­fach ver­hört wor­den. Ein­mal war er sogar 10 Tage lang verschwunden.

Bestimmt hat­te die alte Frau aus dem Haus gegen­über etwas mit der Anord­nung sei­ner Qua­ran­tä­ne zu tun. Nichts ent­ging ihren wach­sa­men Augen, wenn sie, wie auch jetzt gera­de wie­der, am offe­nen Küchen­fens­ter lehn­te und miss­trau­isch das Gesche­hen auf der Stra­ße ver­folg­te. Im Mel­den von Ver­stö­ßen gegen Kon­takt­be­schrän­kun­gen und Mas­ken­pflicht über ihre Gesund­heits-App hat­te sie eine neue und offen­bar über­aus erfül­len­de Auf­ga­be gefun­den. Viel ande­res blieb ihr dar­über­hin­aus auch nicht zu tun, seit ihre Enkel sie zu ihrer eige­nen Sicher­heit nur noch ein­mal pro Monat für zwei Stun­den besu­chen dürfen.

Ver­mut­lich war ihr auch der gest­ri­ge Spa­zier­gang und das Pick­nick im Park mit sei­nen Kin­dern nicht ent­gan­gen. Seit der Schei­dung von ihrer Mut­ter sah er die bei­den nur noch sel­ten und ges­tern war doch sein Geburts­tag. Frei­lich war auch das kein Grund sich ein­fach mal zu tref­fen, da waren das Gesetz und die Gesund­heits­be­hör­de uner­bitt­lich. Wenn sei­ne Kin­der doch wenigs­tens ihr Auto wei­ter weg geparkt hät­ten und sie sich ein­fach im Park getrof­fen hät­ten, dann hät­te die Alte sie ver­mut­lich gar nicht bemerkt.

Viel­leicht war K. aber auch nur ges­tern im Super­markt bei den Ein­käu­fen für ihr Pick­nick unauf­merk­sam gewe­sen und hat­te den vor­ge­schrie­be­nen Min­dest­ab­stand zu oft unter­schrit­ten. Die Gesund­heits-App, die jeder im öffent­li­chen Raum auf sei­nem Smart­phone mit­zu­füh­ren hat­te, zeich­ne­te sol­che Annä­he­rung sofort auf und mel­de­te sie seit dem Update Ende letz­ten Jah­res sofort an die Behör­de. Oder sei­ne Mund­schutz­mas­ke war ihm kurz ver­rutscht und die Kas­sie­re­rin hat­te das geflis­sent­lich gemel­det, wozu sie per neu­es­tem Erlass ja auch ver­pflich­tet war. 

Jetzt durf­te er jeden­falls bis zum Ein­tref­fen der Poli­zei und der Gesund­heits­be­hör­de sei­ne Woh­nung nicht mehr ver­las­sen. Wider­stand war zweck­los. Jede Miss­ach­tung wür­de sofort erkannt und gemel­det. Der Chip, den er wie alle ande­ren Nicht-Immu­nen seit der Gro­ßen Pan­de­mie unter der Haut in sei­nem Unter­arm trug, wür­de ihn sofort verraten. 

Damals schie­nen die­se Chips eine gute Idee zu sein, um den Gesund­heits­zu­stand ihres Trä­gers zu über­wa­chen und ihn bei Sym­pto­men einer Infek­ti­on schnell zu war­nen. Ver­bun­den mit der Gesund­heits-App konn­te man die­se War­nung einer mög­li­chen Infek­ti­on auch per Knopf­druck an alle wäh­rend der letz­ten Tage auf­ge­zeich­ne­ten Kon­tak­te schi­cken, um so die Infek­ti­ons­ket­ten mög­lichst schnell zu unterbrechen. 

Alle waren über­glück­lich, also sie sich mit­tels die­ser Tech­nik nach einem hal­ben Jahr Lock­down end­lich wie­der eini­ger­ma­ßen nor­mal bewe­gen zu konn­ten. Natür­lich war der Zugriff auf sei­ne Gesund­heits­da­ten, sei­ne Kon­tak­te und sei­ne Auf­ent­halts­or­te anfangs noch streng geschützt gewe­sen. Nie hät­ten sonst so vie­le so bereit­wil­lig mit­ge­macht. Anfangs hat­te er noch vol­le Kon­trol­le über die Daten in sei­ner Gesund­heits-App und nur er ent­schied, wann und ob er sie wei­ter­gab. Erst spä­ter kam, um die Ver­brei­tung des Virus bes­ser zu erfor­schen, wie es hieß, der Erlass, der die Gesund­heits­be­hör­de zu vol­lem Zugriff dar­auf ermächtigte. 

Rich­tig frei am öffent­li­chen Leben teil­neh­men durf­ten seit­her nur noch Bür­ger mit offi­zi­el­lem Immu­ni­täts­nach­weis. Für die Immu­nen waren die Kon­takt- und Rei­se­be­schrän­kun­gen außer Kraft gesetzt wor­den. Alle Nicht-Immu­nen hat­ten ihren Chip im Arm und tru­gen die Gesund­heits-App immer bei sich. Dar­über­hin­aus waren sie ver­pflich­tet, als Erken­nungs­zei­chen in der Öffent­lich­keit die von der Behör­de aus­ge­ge­be­nen wei­ßen Schutz­mas­ken mit grü­nem Virus-Sym­bol tragen.

Anfangs hat­te K. auch ver­sucht, einen Immu­ni­täts­nach­weis zu bekom­men. In der Hoch­pha­se der Pan­de­mie im Früh­jahr 2020 hat­te er schließ­lich auch Fie­ber gehabt und Hus­ten. Sein Zustand bes­ser­te sich damals aber schnell von selbst und er war nie bei einem Arzt und so wur­de er nie auf das Virus getes­tet. Sein Antrag bei der Gesund­heits­be­hör­de war aller­dings nach sechs Mona­ten, meh­re­ren Tests und nicht ganz uner­heb­li­chen Ver­wal­tungs­kos­ten nega­tiv beschie­den wor­den. Nun konn­te er frü­hes­tens in einem hal­ben Jahr wie­der einen neu­en Antrag stel­len. Ohne hoch­ran­gi­ge Für­spre­cher in der Behör­de schien ihm das aber rei­ne Zeit­ver­schwen­dung zu sein.

Fort­set­zung folgt – hof­fent­lich nicht.

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

1 Kommentar

Lie­ber Marcus

auch wenn der Arti­kel erst 3.5 Mona­te jung ist, so gibt es doch schon wie­der ers­te Zei­chen, die man in Rich­tung der von Dir so greif­bar gezeich­ne­ten Dys­to­pie sehen könnte. 

Dan­ke noch­mals für den Arti­kel, der nicht tref­fen­der mei­ne Beden­ken hin­sicht­lich der Ent­wick­lun­gen hät­te beschrei­ben können. 

Ich bin noch immer der Über­zeu­gung, dass wir unse­re Zukunft bes­ser selbst aktiv gestal­ten und wie­der begin­nen, in Mög­lich­kei­ten statt Pro­ble­men, Risi­ken und Gefah­ren zu denken. 

Ich hof­fe, dass wir dies in den nächs­ten Mona­ten schaffen. 

LG
Ralf

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