Digitaler Minimalismus: Weniger ist mehr

Wir haben uns nicht für die­ses digi­ta­le Leben ange­mel­det, das wir jetzt füh­ren. Tech­no­lo­gie ver­führt uns auf per­fi­de Wei­se und kapert unse­re Auf­merk­sam­keit. Einen Gegen­ent­wurf dazu bie­tet Cal New­port mit sei­ner Phi­lo­so­phie des „Digi­ta­len Minimalismus“.

Viel­leicht bin ich ja nur zu alt dafür gewor­den. Die Fas­zi­na­ti­on von Twit­ter und Lin­ke­dIn ist jeden­falls einem Gefühl der Belas­tung und teil­wei­se der Über­las­tung gewi­chen. Spä­tes­tens seit den zuneh­mend ver­bis­se­nen und stark pola­ri­sie­ren­den Dis­kus­sio­nen rund um COVID-19. Lan­ge woll­te ich nicht wahr­ha­ben, was offen­kun­dig ist. In Social Media bin ich nicht Kun­de, son­dern Pro­dukt. Es geht nur dar­um, mei­ne Auf­merk­sam­keit mit per­fi­den sucht­för­dern­den Mecha­nis­men mög­lichst lan­ge zu fes­seln. Mit Erfolg, wie ein nüch­ter­ner Blick auf die Bild­schirm­zeit mei­nes iPho­nes zeigt:

Typische Bildschirmnutzung – nicht gerade ein Beispiel für digitalen Minimalismus.

Sehr gut erklärt Tris­tan Har­ris die Zusam­men­hän­ge in sei­nem TED-Talk. Und er muss es wis­sen, denn er hat die­se Mecha­nis­men im „Stan­ford Per­sua­si­ve Tech­no­lo­gy Lab“ stu­diert und bei Goog­le ange­wen­det bis ihn eines Tages Zwei­fel über­ka­men. Dar­auf­hin ver­fass­te er einen Foli­en­satz, der bei Goog­le intern so viral ging, dass ihn Lar­ry Page zum Gespräch bat und ihn zum „Design Ethi­cist“ ernann­te. Nach­dem Goog­le aber Teil die­ser Auf­merk­sam­keits­in­dus­trie ist und damit sein Geld ver­dient, blieb sei­ne Wirk­sam­keit dort beschränkt, so dass er 2016 Goog­le ver­ließ, um das „Cen­ter for Huma­ne Tech­no­lo­gy“ zu grün­den und sich seit­her für einen acht­sa­me­ren und fai­re­ren Umgang mit der mensch­li­chen Auf­merk­sam­keit bemüht.

Das alles ist mitt­ler­wei­le hin­rei­chend bekannt. Wie bei ande­rem Sucht­ver­hal­ten nützt die Erkennt­nis allein aller­dings nichts. Sonst gäbe es kei­ne Spiel­ca­si­nos in Las Vegas und sonst wür­den dort die Spiel­au­to­ma­ten nicht so unglaub­lich viel Gewinn machen. Und natür­lich ist es kein Zufall, dass man so ziem­lich jede Time­line auf dem Smart­phone nach unten zie­hen kann, um einen Refresh zu bekom­men. Neu­es Spiel, neu­es Glück. 

Ent­schei­dend dabei ist die zufäl­li­ge Beloh­nung. Das kann die eine neue inter­es­san­te Sto­ry auf Lin­ke­dIn sein. Noch bes­ser funk­tio­nie­ren aber Likes, jeden­falls bei mir. Jedes Like (das es auf Lin­ke­dIn jetzt auch noch in fünf­fa­cher Nuan­cie­rung gibt) ist ein Zei­chen von Aner­ken­nung und ich mag Aner­ken­nung für mei­ne Arti­kel und mei­ne sons­ti­gen Akti­vi­tä­ten sehr. Und wenn die­se Likes dann noch zufäl­lig ent­ste­hen und nie sicher ist, wie vie­le Likes beim nächs­ten Ent­sper­ren des Smart­phones ange­zeigt wer­den, dann geht es mir wie den Tau­ben in einem Expe­ri­ment aus den 1970er Jah­ren: Unvor­her­seh­ba­re Beloh­nun­gen wir­ken deut­lich ver­lo­cken­der als gut plan­ba­re. Und so wie die Tau­ben dann immer wie­der den Knopf picken, wo mal mehr und mal weni­ger Fut­ter kommt, neh­me ich das Smart­phone dann eben öfter zur Hand also sinn­voll und notwendig.

Die begehr­ten neu­en Tech­no­lo­gien, die sich wäh­rend der letz­ten rund zehn Jah­re ent­wi­ckelt haben, sind beson­ders gut dazu geeig­net, Ver­hal­tens­süch­te aus­zu­lö­sen, und trei­ben Men­schen dazu, sie viel mehr zu ver­wen­den, als ihnen nütz­lich oder gesund erscheint. […] Über­mä­ßi­ge Nut­zung ist in die­sem Zusam­men­hang nicht die Fol­ge einer Cha­rak­ter­schwä­che, son­dern viel­mehr die Umset­zung eines über­aus pro­fi­ta­blen Busi­ness­plans: Wir haben uns nicht für das digi­ta­le Leben ange­mel­det, das wir jetzt führen.

Cal New­port

Nein, das ist in der Tat nicht das digi­ta­le Leben, für das ich mich eigent­lich ange­mel­det hat­te. Und ohne mich her­aus­re­den zu wol­len, bin ich fest davon über­zeugt, dass ich auch Opfer eines ein­sei­ti­gen Auf­rüs­tens sei­tens der Auf­merk­sam­keits­in­dus­trie bin. Mir ging es 2010 mit der Anmel­dung bei Twit­ter (Lin­ke­dIn kam viel spä­ter), dar­um zufäl­lig(!) neue Impul­se zu bekom­men, aber auch mei­ne Inhal­te und Ideen zu ver­brei­ten und in der Dis­kus­si­on mit inter­es­san­ten Men­schen in Ver­bin­dung zu tre­ten. Und das alles funk­tio­nier­te und funk­tio­niert aus­ge­zeich­net. Inso­fern argu­men­tier­te ich auch immer mit die­sem offen­sicht­li­chen und für mich unbe­streit­ba­ren Nut­zen von Social Media.

Genau die­se Argu­men­ta­ti­on greift der Infor­ma­tik-Pro­fes­sor und Autor Cal New­port in sei­nem 2019 erschie­nen Buch „Digi­ta­ler Mini­ma­lis­mus“ (Ama­zon Affi­lia­te-Link) auf. Dar­in beschreibt er sei­ne Phi­lo­so­phie der bewuss­ten Tech­no­lo­gie­nut­zung, bei der es im Kern nicht um Abs­ti­nenz geht, son­dern dar­um geht, bewusst zu ent­schei­den, wel­che Tech­no­lo­gie für wel­chen Zweck in best­mög­li­cher Wei­se ein­zu­set­zen ist.

Digi­ta­ler Mini­ma­lis­mus: Eine Phi­lo­so­phie der Tech­no­lo­gie­nut­zung, bei der wir unse­re Online­zeit auf eine klei­ne Anzahl von sorg­fäl­tig aus­ge­wähl­ten und opti­mier­ten Akti­vi­tä­ten kon­zen­trie­ren, die für uns wert­vol­le Ange­le­gen­hei­ten inten­siv unter­stüt­zen, und auf alles Übri­ge freu­dig verzichten.

Cal New­port

Für den Ein­stieg in den Digi­ta­len Mini­ma­lis­mus beschreibt Cal New­port den Pro­zess der Digi­ta­len Ent­rüm­pe­lung. Für einen Zeit­raum von 30 Tage ver­zich­tet man auf optio­na­le Tech­no­lo­gien und nutzt die­se Zeit, um sich ande­ren Akti­vi­tä­ten und Ver­hal­tens­wei­sen zu wid­men. Mit der Klar­heit die­ser 30 Tage Abs­ti­nenz bestimmt man dann für jede Tech­no­lo­gie, in wel­cher Wei­se sie das Leben berei­chert, ob sie dafür die bes­te Tech­no­lo­gie ist und wenn ja, wie sie dafür opti­mal ein­ge­setzt wer­den kann.

Soweit die Theo­rie. Zufäl­lig habe ich nun ein Monat Eltern­zeit und will mich in die­ser Zeit lie­ber der Fami­lie und nicht mit dem Zäh­len von Likes wid­men. Da Twit­ter und Lin­ke­dIn immer noch wert­vol­le Kanä­le sind und es immer blei­ben wer­den, solan­ge ich blog­ge, kann ich nicht ganz dar­auf ver­zich­ten, son­dern wer­de die Nut­zung nur stark beschrän­ken (auch das im Pro­zess der Digi­ta­len Ent­rüm­pe­lung erlaubt und vor­ge­se­hen). Bei­des habe ich daher auf mei­nem Smart­phone deinstal­liert (genau­so wie Insta­gram, das ich aber ohne­hin kaum nut­ze). Statt­des­sen wer­de ich mich nur noch zu weni­gen klar defi­nier­ten Zei­ten um die eine oder ande­re Dis­kus­si­on kümmern. 

Es besteht also kein Anlass zur Sor­ge, wenn ich künf­tig nicht sofort ant­wor­te. Im Gegenteil.

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

1 Kommentar

Vie­len Dank, Mar­kus, das bringt es für mich sehr gut auf den Punkt. Gera­de jetzt in der Urlaubs­zeit kann ich das total gut nachvollziehen.

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