Die agile Transformation und ihre Kennzahlen

Rück­bli­ckend hal­te ich es für einen mei­ner größ­ten Feh­ler, Kenn­zah­len für die agi­le Trans­for­ma­ti­on immer kate­go­risch abge­lehnt zu haben. Die Gefahr einer Infla­ti­on des Car­go-Kults sehe ich zwar immer noch, wenn Phä­no­me­ne der Agi­li­tät gemes­sen und belohnt wer­den statt der Essenz, aber ich wür­de das Risi­ko heu­te bewusst ein­ge­hen. Frü­her oder spä­ter kommt in jeder Trans­for­ma­ti­on näm­lich der Zeit­punkt, wo sehr nach­drück­lich die Fra­ge gestellt wird, was das alles soll und bringt. Und dann muss man das Sys­tem mit den eige­nen Waf­fen schlagen.

Kann man Agi­li­tät mes­sen? Und wenn ja, wie und womit? Orga­ni­sa­tio­nen, die über vie­le Jah­re sehr erfolg­reich plan­ge­trie­ben agier­ten und es des­halb gewohnt sind, in Kenn­zah­len zu den­ken, stel­len sich die­se Fra­gen eher frü­her als spä­ter auf ihrer Rei­se hin zu mehr Agi­li­tät. Uner­schüt­ter­lich ist der Glau­be an das Dog­ma, dass man nur mana­gen kann, was man mes­sen kann. Aber stimmt die­ses Dog­ma über­haupt? Und ist es für die agi­le Trans­for­ma­ti­on irgend­wie nütz­lich und anwendbar? 

It is wrong to sup­po­se that if you can’t mea­su­re it, you can’t mana­ge it – a cos­t­ly myth.

W. Edwards Deming, The New Eco­no­mics, S. 35

Als Urhe­ber die­ses Dog­mas wer­den wahl­wei­se W. Edwards Deming oder Peter F. Dru­cker genannt. Nur haben weder Deming noch Dru­cker das je so gesagt. Bei­de waren sich im Gegen­teil der Gren­zen der Mess­bar­keit durch­aus bewusst, ins­be­son­de­re dort wo es um Men­schen und Füh­rung geht. 

Natür­lich wäre es wün­schens­wert, eine Orga­ni­sa­ti­on oder ein Ver­än­de­rungs­vor­ha­ben mit GPS-Genau­ig­keit steu­ern zu kön­nen: Posi­ti­on bestim­men, han­deln, ver­än­der­te Posi­ti­on und damit Rich­tung und Fort­schritt bestim­men. Wo das mög­lich ist, soll­te man genau das natür­lich tun. In den weit­aus meis­ten Fäl­len wird das aber nicht oder wenigs­tens nicht ein­fach und direkt mög­lich sein. Den­noch muss irgend­wie ent­schie­den und gehan­delt werden. 

Nicht alles, was zählt, kann gezählt wer­den, und nicht alles, was gezählt wer­den kann, zählt.

Albert Ein­stein

Lan­ge Zeit war ich fest davon über­zeugt, dass die Ver­mes­sung der Agi­li­tät und das Manage­ment der agi­len Trans­for­ma­ti­on mit Kenn­zah­len direkt in die Car­go-Kult-Höl­le führt. Das was wirk­lich zählt, die Effek­ti­vi­tät, die Wert­ori­en­tie­rung, die Anpas­sungs­fä­hig­keit, die Resi­li­enz, die Zufrie­den­heit der Kun­den oder die Zufrie­den­heit der Mit­ar­bei­ter, ist recht auf­wän­dig zu bestimmen.

Ande­rer­seits gibt es natür­lich Din­ge, die sich leicht beob­ach­ten und mes­sen las­sen, die bun­ten Haft­zet­tel, die Back­logs, die Sto­ry Points und die Velo­ci­ty der Teams, besetz­te agi­le Rol­len und absol­vier­te Trai­nings und vie­les mehr. Nur ist all das nicht die Essenz der Agi­li­tät, son­dern Phä­no­me­ne, die man in agi­len Orga­ni­sa­tio­nen beob­ach­ten kann. Die­se For­men ent­sprin­gen der Essenz, aber die Essenz lässt sich nicht mit­tels der Imi­ta­ti­on der Form erzwingen. 

Wenn nun in Unter­neh­mens­kul­tu­ren ohne aus­rei­chen­de psy­cho­lo­gi­sche Sicher­heit, dafür mit aller­lei an Kenn­zah­len geknüpf­ten indi­vi­du­el­len Leis­tungs­an­rei­zen, begon­nen wird die­se Phä­no­me­ne zu mes­sen und zu beloh­nen, wird das Ergeb­nis not­wen­di­ger­wei­se ober­fläch­li­cher Car­go-Kult blei­ben. So weit mei­ne bis­he­ri­ge Argumentation.

Rück­bli­ckend hal­te ich es mitt­ler­wei­le aber für einen mei­ner größ­ten Feh­ler, die Ver­mes­sung der Agi­li­tät und Kenn­zah­len für die agi­le Trans­for­ma­ti­on bis­her immer mehr oder weni­ger kate­go­risch abge­lehnt zu haben. Die Gefahr einer Infla­ti­on des Car­go-Kults sehe ich zwar immer noch, aber ich wür­de das Risi­ko heu­te bewusst ein­ge­hen bzw. durch eine sehr sorg­fäl­ti­ge Aus­wahl der Kenn­zah­len begrenzen. 

Frü­her oder spä­ter kommt in jeder Trans­for­ma­ti­on der Zeit­punkt, wo sehr nach­drück­lich die Fra­ge gestellt wird, was das alles soll und bringt. Und die ein­zi­ge Spra­che, in der eine Ant­wort dar­auf ver­stan­den und akzep­tiert wer­den wird, ist die Spra­che der Kenn­zah­len. Ins­be­son­de­re dann, wenn sich seit dem Beginn der Trans­for­ma­ti­on die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on des Unter­neh­mens ver­schlech­tert hat, die Grund­stim­mung gegen­über der Trans­for­ma­ti­on viel­leicht zu kip­pen droht oder wesent­li­che Prot­ago­nis­ten das Unter­neh­men mitt­ler­wei­le ver­las­sen haben. 

Man muss das Sys­tem, das man eigent­lich über­kom­men will, mit sei­nen eige­nen Waf­fen schla­gen, sonst schlägt das Sys­tem irgend­wann uner­bitt­lich zurück. 

Share This Post

Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

14 Kommentare

Mar­cus, dan­ke für die­sen Arti­kel. Ich habe mich auf dem Blog von Dani­el Dub­bel, inspectandadapt.de in der ergän­zen­den Betrach­tung zum The­ma Mess­bar­keits­di­lem­ma auch für das Mes­sen ausgesprochen. 

Die Fra­ge, woher das Zitat mit dem Mes­sen und Steu­ern kommt, kann ich nicht beant­wor­ten. Wie auf Twit­ter jemand schrieb, könn­te es sogar vom Natur­wis­sen­schaft­ler Lord Kel­vin stam­men, der bezo­gen auf die Phy­sik sag­te, dass erst eine Mes­sung zu einem wah­ren Ver­ständ­nis der Gege­ben­hei­ten führt. 

Ich glau­be, da ist auch im Kon­text von Arbeit etwas dar­an. Agi­li­tät war und ist die Anwen­dung von empi­ri­schem Vor­ge­hens­wei­sen auf die Arbeit. Zu einem Inspect&Adapt gehört aus mei­ner Sicht immer auch die Vali­die­rung durch Messung.

Einen wei­ter­ge­hen­den Bei­trag gibt es von Jut­ta Eck­stein, die sich mit dem The­ma Data Dri­ven Approach for com­pa­ny-wide agi­li­ty beschäftigt. 

Dazu gibt es auf mei­ner Web­sei­te Links und einen span­nen­den Pod­cast mit der Jutta.

Ich arbei­te seit Jah­ren in einem inter­na­tio­na­len Kon­zern im Pro­zess- und Per­for­mance­ma­nage­ment. Ich ken­ne eigent­lich nur die Zeit der Ver­än­de­rung mit Car­ve-Out und Car­ve-In mit der stän­di­gen Not­wen­dig­keit Org.- Pro­zess- und IT Umstruk­tu­rie­run­gen durch­zu­füh­ren. Dabei sind Mit­ar­bei­ter- oder Orga­ni­sa­ti­ons Kenn­zah­len essen­ti­ell und wich­ti­ge die­se über Trei­ber­bäu­me auch an die Fir­men Score Card KPI zu verknüfen.

Lie­ber Mar­cus, ich mei­ne, das unser Unwohl­sein beim Mes­sen mehr aus dem Gefühl her­aus kommt und im Prin­zip schon rich­tig ist. Ich wür­de das zusätz­li­che Mes­sen aber trotz­dem sein las­sen. Wenn man damit anfängt, bekommt man auch „Mes­ser“. Die wer­den leicht zur Abtei­lung, die wie alle Abtei­lun­gen sich ent­spre­chend „Mur­phy’s laws“ ent­wi­ckelt. Also: „Weh­ret den Anfängen!“
Im übri­gen bin ich abso­lut für eine kon­se­quen­te „Kauf­män­ni­sche Kon­trol­le“. Die erfor­dert auch Mes­sen. Und Wer­te wie Umsatz, Kos­ten, Deckungs­bei­trä­ge müs­sen selbst­re­dend gemes­sen wer­den, egal ob agil oder nicht. Das machen ja auch alle, man nennt die. Ergeb­nis­se BWA und Bilanz. Dabei wür­de ich’s aber sein lassen.
Ich selbst hat­te immer Inter­es­se an Zah­len wie Durch­schnitts­al­ter, Gehalts­struk­tu­ren, Krank­heits­ta­ge. Auf so etwas wür­de ich heu­te ver­zich­ten. Qua­li­täts­mes­sun­gen wie Feh­ler pro lines of Code (Soft­ware-Ent­wick­lung) wür­de ich immer noch machen.

Roland, ein sehr tref­fen­der Kom­men­tar! Dan­ke dafür! Ich füge noch einen all­ge­mei­nen Gedan­ken hin­zu. Immer, wenn von mes­sen gespro­chen wird, hat man zuerst sehr klein­tei­li­ge, Ganau­ig­keit vor­gau­keln­de Mes­sun­gen im Sinn. Wir mes­sen aber schon, wenn wir nur 3 Antei­le einer Auf­ga­be defi­nie­ren oder, wenn man Pro­jet­schrit­te zu Zeit­span­nen zuord­net. Die Genau­ig­keit der Mes­sung hängt davon ab, was ich WARUM(!) mes­sen will. Die „Feh­ler pro lines of Code “ sind uner­läss­lich, weil man sich fra­gen muss „Was ist der Grund? für die Zahl? Ist der Pro­gram­mie­rer nicht leis­tungs­fä­hig, weil er z.B. aus Kos­ten­grün­den in drei Pro­jek­ten gleich­zei­tig arbei­ten muss? Oder ist ihm der über­ge­ord­ne­te Funk­tio­na­le Zusam­men­hang nicht deut­lich? Oder soll­te man ihn auf­for­dern, eine aus­rei­chen­de Anzahl von Kom­men­tar­zei­len ein­zu­fü­gen, damit er und sei­ne Ver­tre­ter bei jeweils erneu­tem Ein­stei­gen in die Auf­ga­be sofort Auf­setz­punk­te haben? Gera­de Agi­li­tät ver­langt auf­grund hori­zon­ta­ler und damit ver­ti­ka­ler Dif­fe­reie­rung – auch bis hin zur Klein­tei­lig­keit – ein Ver­ständ­nis an den Anschlss­punk­ten, die inhalt­lich, zeit­lich, per­sön­lich und beson­ders kom­mu­ni­ka­tiv sind. Und Kom­mu­ni­ka­ti­on bedeu­tet nicht, man ver­steht sich, nein, man ver­stän­digt sich. Und dazu hel­fen die cuts, die Maß­ga­ben. Mes­sen so weit ver­stan­den, wird zur Fin­dung der ange­mes­se­nen (Ach­tung Wort­spiel) Ska­lie­rung der Mes­sung füh­ren. Das The­ma des Mes­sens soll­te immer Teil von Ent­schei­dungs­vor­gän­gen sein.

Gute Ergän­zung, lie­ber Frank. Das War­um ist ent­schei­dend. Und auch die Kul­tur in der die­se Zah­len erho­ben wer­den. Oder mit den Wor­ten von W. Edwards Deming: „When­ever the­re is fear you will get wrong numbers.“

Lie­ber Roland, damit hast du mei­nem Unwohl­sein wie­der Auf­trieb gege­ben. Ich bin da immer hin- und her­ge­ris­sen. Aber ver­mut­lich wür­de ich mir künf­tig sehr genau über­le­gen, wor­an wir den Erfolg der Trans­for­ma­ti­on erken­nen (und messen).

Lie­ber Marcus,

vie­len Dank für die­sen (wie alle ande­ren) Artikel!
Ich möch­te mich Rolands Kom­men­tar anschlie­ßen. Mes­sung zur Wirt­schaft­lich­keit müs­sen sein. Aber auch dies in Maßen. Ich sehe eines der wich­tigs­ten Aspek­te im agi­len Kon­text ist und bleibt die Qua­li­tät. Nur dar­an kön­nen sich Teams mes­sen. Schon seit Jah­ren prak­ti­ziert Goog­le die soge­nann­te „WTF“ Mes­sung (=Anzahl Feh­ler im Code ). Egal ob SW Ent­wick­lung oder Produkte/Dienstleistungen soll­te an der Qua­li­tät gemes­sen wer­den. Zusätz­lich erach­te ich den Hap­pi­ness Index als ange­mes­sen zu mes­sen. Die Ergeb­nis­se bei­der Mes­sun­gen kön­nen Füh­rungs­kräf­te unter­stüt­zen hilf­reich ein­zu­schrei­ten wenn dies von Teams erwünscht ist. M E wis­sen aber die Teams sel­ber wor­an es liegt wenn es mal nicht funk­tio­niert und wie man dies behe­ben kann *zwin­ker*
Die pas­sen­den KPIs muss man aller­dings selbst fin­den und da liegt wohl eher der Hund begra­ben. Es gibt kei­ne Blau­pau­se die zu allem paßt (wie so oft im agi­len Umfeld) und daß wird vom Manage­ment nicht immer verstanden.

Lie­be Mela­nia, dan­ke für die Erin­ne­rung an die WTF / Minu­te als die ein­zi­ge Maß­zahl für Code-Qua­li­tät ;-) Qua­li­tät ist aber schon ein sehr guter Ansatz­punkt. Dar­um schrieb ich Kun­den­zu­frie­den­heit und eben auch Mit­ar­bei­ter­zu­frie­den­heit, weil es sonst nicht nach­hal­tig ist.

Dan­ke Dir, Mar­cus und allen ande­ren, die durch die­sen Arti­kel ange­regt wur­den, über das The­ma nach­zu­den­ken. Eini­ge sind sogar so weit gega­gnen, einen Kom­men­tar zu verfassen.

Und wenn Du die Anzahl der Kom­men­ta­re zur Grund­la­ge nimmst, dann ist das hier ein durch­aus wirk­sa­mer Bei­trag zur Dis­kus­si­on um „Kenn­zah­len der Agilität“. ;-)

Ich ver­or­te das „Pro­blem“ mit dem Mes­sen weni­ger an den Zah­len als an dem, was sie bedeu­ten. Es ist ver­füh­re­risch, eine Ver­än­de­rung der Zahl als Ver­bes­se­rung oder Ver­schlech­te­rung anzu­se­hen. Tat­säch­lich ist es erheb­lich, ob jemand das ver­steht, was die Zahl abbildet.

Oder wie es @LukasDonSchmidt auf dem letz­ten agi­LEip­zig Bar­camp ausdrückte:
„Das Pro­blem an Dei­ner Kenn­zahl ist, dass Du Sub­jek­ti­vi­tät auf Irrele­vanz abbildest.“
https://commodus.org/agile-leipzig-barcamp‑4/

Im sel­ben Kon­text nann­te Vol­ker Schramm das „Popo­me­trie“.

Zah­len sind sehr gut geeig­net, den Blick auf das Wesent­li­che, die Effek­ti­vi­tät des Han­delns zu verschleiern.

Und dann fiel mir noch ein:
„20% in to do and 80% in pro­gress is not­hing to ship!“

Ein Teil­ge­ber aus dem agi­LEip­zig-Umfeld tes­te­te sei­nen Bei­trag „Over­com­mit­ment“.
Ich selbst habe immer wie­der die Burn­down-Mus­ter „Rit­ter­burg“ und „Abgrund“ beob­ach­ten können.
https://commodus.org/agile13-barcamp-warmup/

Ob Mes­sen oder nicht, die Kenn­zah­len gehen am Pro­blem vor­bei. Sie sind Indi­zi­en für Füh­rungs­kräf­te, die von dem was sie füh­ren wenig bis gar kei­ne Ahnung haben. Schau­en Sie sich mal die Geschich­te der Bell Labs an. Die waren so erfolg­reich, weil es eben die­se Kenn­zah­len nicht gab, die Füh­rungs­kräf­te aber ein Ahnung davon hat­ten, was die Mit­ar­bei­ter gemacht haben. Das Kenn­zah­len­sys­tem pro­kla­miert, daß jeder der zwei Zah­len ver­glei­chen kann, sinn­vol­le Ent­schei­den tref­fen kann. Das wage ich zu bezwei­feln. Zur Wirt­schaft­lich­keit: das hal­te ich m. E. für eine Theo­rie der Erb­sen­zäh­ler. Wirk­lich gute Füh­rungs­kräf­te und Unter­neh­mer spü­ren, ob sich eine Inves­ti­ti­on in die Zukunft loh­nen wird. Denn eine sog. Wirt­schaft­lich­keits­be­rech­nung ist zu dem Zeit­punkt, wo sie fer­tig­ge­stellt wird, schon nicht mehr gül­tig in einer Welt mit einem so rasan­ten Wech­sel, wie wir ihn haben. Da hilft eben nur Beweg­lich­keit (oder Agi­li­tät?). Pro­gno­sen sind eben schwie­rig, beson­ders wenn sie die Zukunft betref­fen (Karl Valentin).

Schreibe einen Kommentar