Kinder stellen Fragen. Viele davon. Irgendwann in der Schule aber immer weniger. Ab dann zählen nur noch Antworten auf die Fragen des Lehrers. Und so geht es dann im Berufsleben weiter. Wer oben ist oder vorne steht, macht Ansagen. Und weiter unten oder hinten stellt man lieber keine Fragen.
Dabei sind Fragen eine großartige Möglichkeit, um die Welt aus verschiedenen Perspektiven besser zu verstehen. Genau deshalb stellen Kinder so viele Fragen. Jedenfalls bis es ihnen systematisch ausgetrieben wird.
Wer nicht fragt bleibt dumm.
Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt bleibt dumm. Seit Generationen bringt es das Titellied der Kinderserie Sesamstraße auf den Punkt. Genau von diesen Fragen bräuchten wir heute mehr denn je, um die Zusammenhänge in einer immer globaler und immer komplexer werdenden Welt zu ergründen. In der Schule sowieso, aber auch in Wirtschaft und Gesellschaft ganz allgemein. Stattdessen haben wir es uns bequem gemacht in unserer Konsumentenhaltung und fordern von denen da oben schnelle Antworten, egal ob als Bürger oder als Angestellter.
Diese Antworten führen aber selten zur Einsicht, sondern eher zu Unzufriedenheit. In der Kaffeeküche und beim Mittagessen haben dann alle eine – und meist keine gute – Meinung dazu. Kritik ist immer schnell geübt. Auf die Idee, nachzufragen, um die kommunizierte Antwort und Position zu verstehen, kommt aber selten jemand. Zu eingespielt sind die Muster aus Ansage von oben und Gehorsam ohne echte Überzeugung unten und zu groß oft die Ehrfurcht und Angst.
Dieser träge Kreislauf aus Antworten geben, welche die Betroffenen dann mehr oder weniger öffentlich kritisieren und ihnen nur widerwillig folgen, sorgt auch an der Spitze für Unzufriedenheit. Viel Zeit und Geld wird deshalb in die Kommunikation und das Changemanagement investiert, damit die gefundenen Antworten besser verstanden werden. Auf die Idee, sich die anderen Perspektiven und Lösungen vor der eigenen Antwort durch aufrichtiges Fragen zu erschließen kommen aber leider auch nur die wenigsten in der Chefetage. Zu tief sitzt das Selbstverständnis, dass gute und starke Führung Antworten geben muss und Fragen zu stellen Unfähigkeit und Schwäche suggeriert.
So bleiben alle dümmer als notwendig. Die einen oben, weil ihnen gute Perspektiven und Kreativität bei der Lösungsfindung fehlen. Und die anderen unten, weil sie nur die finale und hübsch verpackte Antwort kennen, aber selten die Fragen und den Prozess, dessen Ergebnis diese Antwort ist.
Wer fragt, der führt. Wer führt, der fragt.
Wer fragt, der führt. Im Vertrieb und Verkauf ist das eine goldene Regel. Dort ist der Kunde aber auch nicht annähernd so abhängig wie der angestellte und unterstellte Mitarbeiter. Antworten im Sinne von Eigenschaften und Vorzügen eines Produkts oder einer Dienstleistung finden eher Zuspruch, wenn sie für die jeweilige Situation und das Problem des Kunden passen und aus der individuellen Perspektive Sinn ergeben. Darum fragen gute Verkäufer viel und lassen erst im Gespräch die Vorzüge des Produkts geeignet einfließen. Und sehr guten Verkäufern gelingt das in authentischer und unaufdringlicher Weise, sodass man sich als Kunde nicht manipuliert und gedrängt, sondern verstanden und gut beraten fühlt.
Wer führt, der fragt. Fragen zu stellen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Weisheit. Der erste Schritt dahin ist Bescheidenheit durch die Erkenntnis des Nicht-Wissens, so wie es Sokrates zugeschrieben wird: „Ich weiß, dass ich nicht weiß!“ (Ganz bewusst mit „nicht“ statt „nichts“, das ein verbreiteter Übersetzungsfehler aus dem Altgriechischen war). Sokrates wusste, dass er vieles nicht wusste und eine seiner liebsten Methoden war es Fragen zu stellen, um sich selbst und anderen zu Erkenntnis zu verhelfen. Sich der Grenzen des eigenen Wissens bewusst zu sein, war für ihn ein Stück Weisheit: „Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser, dass ich eben das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube“ (Platon: Apologie des Sokrates).
Eine Frage der Haltung
Aber Frage ist nicht gleich Frage. Es kommt auf die Haltung an. Wer fragt, um die eigene Meinung bestätigt zu bekommen, hat seine Antwort schon und lernt nichts dazu, sondern versucht nur zu manipulieren. Gute Fragen ermöglichen einen Dialog auf Augenhöhe. Humble Inquiry nennt Edgar H. Schein das in seinem gleichnamigen Buch (Amazon Affiliate-Link) und meint damit Fragen ohne Vorurteile mit aufrichtigem Interesse für die Perspektive und Meinung des Anderen. Gerade in der Führungsarbeit, die immer durch ein Machtgefälle und dadurch eingeübte Verhaltensweisen gekennzeichnet ist und wodurch die Augenhöhe beeinträchtigt wird, ist diese Haltung der Demut und der Aufrichtigkeit entscheidend.
Humble Inquiry is the fine art of drawing someone out, of asking questions to which you do not already know the answer, of building a relationship based on curiosity and interest in the other person.
Edgar H. Schein, Humble Inquiry: The Gentle Art of Asking Instead of Telling
Wer in diesem Sinne fragt, will wirklich zuhören, auch und gerade wenn die Antworten vielleicht im Widerspruch zur eigenen bisherigen Meinung stehen. Diese Haltung stärkt die Beziehung und nährt das Klima der psychologischen Sicherheit, die laut einer umfangreichen Untersuchung bei Google die mit Abstand wichtigste Zutat für Teamerfolg ist. In wirklich effektiven Teams herrscht ein hohes Maß an Sicherheit, sodass sich die Mitglieder trauen, ihre Meinung offen zu sagen, sich verletzlich zu zeigen und Risiken einzugehen.
Diese psychologische Sicherheit ebnet den Weg in eine offene Lernkultur, wie sie im Zentrum des beeindruckenden Wandels bei Microsoft unter ihrem CEO Satya Nadella steht. Sein erklärtes Ziel ist ein Growth Mindset bei Microsoft, also eine wachstumsorientierte Haltung, wie es Carol Dweck in ihrem Buch „Mindset“ einführt (Amazon Affiliate – Link). In einem Interview bei Bloomberg Businessweek beschreibt er die Herausforderung sehr treffend als den Übergang von einer Haltung des know-it-all zu einer des learn-it-all. Wer bereit ist beständig zu lernen, stellt automatisch mehr Fragen und verfällt weniger in jene Selbstgefälligkeit wie sie Risto Siilasma bei Nokia wahrnahm nachdem Apple das iPhone einführte: „The unspoken message I heard was: We are Nokia. We invented this industry. Let’s keep doing what we do so well. Nobody does it better.“
Sich selbst hinterfragen
Führung heißt zunächst, sich selbst und die eigene Haltung und Motivation zu hinterfragen. Der klassische Karrierepfad in den meisten Unternehmen fokussiert auf die fachliche Leistung und macht aus sehr guten Fachkräften zunächst bestenfalls mittelmäßige Führungskräfte. Ohne die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle und der damit verbundenen Führungshaltung bleiben diese so ausgewählten Führungskräfte dann ihr bester Mitarbeiter und verfallen ins Micromanagement, weil sie die Arbeit am besten kennen und können.
If you want people to think, give them intent, not instruction.
David Marquet
Auch David Marquet hinterfragte seine Haltung als Kapitän der USS Santa Fe. Nachdem er kurzfristig das Kommando dieses Atom-U-Boots übernehmen musste, obwohl er eigentlich für ein älteres Modell trainiert wurde, gab er während einer Übung dem wachhabenden Offizier das Kommando „Zwei Drittel voraus!“, aber nachdem dieser es geflissentlich an den Steuermann weitergegeben hatte, passierte erstaunlicherweise nichts. Diese Geschwindigkeitsstufe gab es auf der USS Santa Fe nämlich nicht. Natürlich wusste das der Offizier auch, aber Befehl ist Befehl und der Chef wird es bestimmt wissen.
In diesem Moment erkannte David Marquet, dass eine Crew, die auf Gehorsam trainiert ist und ein Chef, der keine Ahnung hat, keine gute Kombination auf einem Atom-U-Boot ist. Er war mit seinem beschränkten Wissen und seiner beschränkten Erfahrung ein gefährlicher Engpass. Natürlich hätte er dieses Manko durch das Aneignen von mehr Wissen und mehr Erfahrung beheben können, er entschied sich aber stattdessen das ungenutzte Potenzial in der kollektiven Erfahrung, Intelligenz und Kreativität seiner Mannschaft zur Entfaltung bringen.
Er beschloss, gar keine Befehle mehr zu geben. Bis auf die Verwendung der Atomraketen (diese Verantwortung wollte er niemand sonst aufbürden) ließ David Marquet seine Crew im Detail selbst entscheiden. Damit sie diese Entscheidungen aber treffen konnten, half er ihnen durch gezielte Fragen, ihre Entscheidungen zunehmend unabhängiger treffen zu können. Wenn er also anfangs noch um Erlaubnis gefragt wurde, um beispielsweise den Tauchvorgang einzuleiten, gab er keinen Befehl, sondern führte den fragenden Offizier dahin, dass er darüber nachdachte, ob es einerseits sicher war und andererseits jetzt das Richtige im Sinne der übergreifenden Mission war. Nach und nach fragten immer weniger Offiziere um Erlaubnis, sondern begannen selbst wie der Kapitän zu denken und übernahmen Verantwortung für ihre Entscheidungen und die Entscheidungen ihrer Teams.
Mit dieser außergewöhnlichen Führungskultur gelang es David Marquet im wahrsten Sinne des Wortes das Schiff herumzudrehen, weshalb sein zugehöriges und sehr lesenswertes Buch „Turn Around the Ship! A True Story of Turning Followers Into Leaders“ heißt (Amazon Affiliate-Link). Die USS Santa Fe entwickelte sich durch diesen erstaunlichen Wandel der Führungskultur vom ehemals schlechtesten zum besten U‑Boot in der US Navy und blieb es auch nachdem David Marquet 2009 in Ruhestand ging.
Fragen zu stellen statt Antworten zu geben, ist also kein Zeichen von Führungsschwäche, sondern stärkt die Beziehungen und die Menschen. Entscheidend dabei ist eine Haltung, die von Bescheidenheit, Authentizität und aufrichtigem Interesse für die Perspektive des Anderen geprägt ist. Nur so entsteht die notwendige psychologische Sicherheit, um die richtigen Fragen angstfrei stellen zu können. Die damit entstehende offene Lernkultur schützt vor Selbstgefälligkeit und macht Organisationen zukunftsfähig in unserer immer komplexer werdenden Welt.
7 Kommentare
Lieber Marcus,
Wieder mal ein sehr gelungener Artikel.
Leider wird uns das Fragen abtrainiert und folgt einem Gehorchen. Ich denke dass beruht auf unser veraltetes Schulsystem dass darauf basiert dass es erstens nur eine richtige Antwort gibt und einhergeht damit dass wir ständig bewertet werden. Allein eine Verständigungsfrage bei einer vom Lehrer gestellten Aufgaben führ zu Gegröle von Mitschülern und führt dazu aus Angst als Depp dazustehen nicht mehr zu fragen. Den Sinn einer Aufgabe zu hinterfragen ist geradezu ketzerisch. Da der Mensch als soziales Wesen gemocht werden will schwimmt er lieber im Strom der Unwissenden als sich unbeliebt zu machen. Uns wird also das Fragen stellen von Kindesbeinen an ausgetrieben um Bewertungen und Ausschluß aus der Gemeinschaft zu entgehen.
Die Demut sein Unwissen als Führungskraft durch Fragen zu zeigen, hat sehr viel mit dem Selbstbild und dem Menschenbild an sich zu tun. Eine Führungskraft muss in erster Linie Menschen mögen und ein wahres Interesse am Gegenüber haben um Menschen führen zu können. Wie du bereits schreibst, kommen die meisten durch ihr Expertentum in eine Führungsposition. Sie haben sich gar nicht damit auseinander gesetzt wie man Menschen führt (oftmals verbunden damit dass sie sich selbst nicht führen können) und verwechseln führen mit managen. Ich behaupte dass man Unwissenheit dadurch sieht wie sehr eine Führungskraft managed. Um so weniger jemand etwas nicht weiß und nicht fragt um so mehr ist er der Auffassung dass seine Untergebenen es ebenfalls nicht wissen und um so mehr kontrolliert er jeder ihrere Schritte. Wie in der Schule hinterfragen die Mitarbeiter oft den Sinn ihrer Tätigkeit, einer Firmenstragie usw. nicht um sich nicht unliebsame zu machen, bei der Beförderung nicht übergangen zu werden oder sich sonst irgendwie selbst Steine für ihre Karriere zu legen. Fragen kann auch nur der, der sich bewußt ist dass egal welche Folgen dies für ihn haben könnte, es keinen Abbruch seiner Expertise oder seines Wertes als Person mit sich zieht. Und hier liegt der eigentliche Kern der wenigen Fragenstellerei. Der Reifegrad einer Person. In wie fern bin ich mir bewusst dass ich als Mensch die innere Weißheit habe, dass mir nichts passieren kann? Inwiefern bin ich mir im Klaren dass nichts gibt was man mir nehmen kann, denn alles was ich brauche habe ich in mir (zB Erfahrung)? Ich behaupte dass die meisten Menschen eine so große Angst haben dass sie nicht mehr in Lohn und Brot sind wenn sie etwas unpassendes fragen oder von der Gemeinschaft ausgeschlossen werden dass sie es daher nicht tun. Wenn sich jeder im klaren darüber wird dass Ängste hausgemacht sind und es nichts zu fürchten gibt, würden wir nicht nur mehr fragen sonder auch mehr tun.
Vielen Dank! Das hast du gut analysiert und zusammengefasst. Die Angst ausgeschlossen zu werden, ist eine große Triebkraft. Schön beschrieben ist das alles im immer noch und immer wieder lesenswerten Buch „Der Untertan“ von Heinrich Mann.
Ich neige zum spontanen und ggf. nicht reflektierten Widerspruch.
Sicher, ein Team/System mag durch die richtigen (Hinter-)Fragen zu mehr Selbstständigkeit gelangen.
Es gibt aber auch Fragen an Führungskräfte die nicht mit einer Rückfrage „Wie würden Sie es tun?“ zu beantworten sind. Was hätte David Marquet denn bei einer akuten Krise gemacht?
Ich gehe mal davon aus, dass die Übungen, die die US Navy mit ihren Atom-U-Booten macht durchaus realistisch sind. Insofern hatte die Crew bestimmt genug Gelegenheit sich in schwierigen Situation mit dieser Führungsphilosophie zu bewähren.
Gerade in einer Krise ist es rein statistisch gesehen nicht der Typ ganz oben auf der Pyramide, der die ganzen guten Ideen hat. Gerade da erwarte ich, dass dieses Modell die besseren Ergebnisse liefert, weil mehr Köpfe an der Lösungsfindung beteiligt sind und damit eine größere Vielfalt an Lösungsansätzen ins Spiel kommt.
Ich wünsche euch allen ein frohes neues Jahr!
Danke Marcus, für den tollen Blogbeitrag und wieder eine Möglichkeit zum Reflektieren.
„Wer nicht fragt bleibt dumm!“ Diese Aussage unterschreibe ich sofort. Trotzdem habe ich es schon oft erlebt, dass gar nicht oder nich viel gefragt/hinterfragt wird.
Wie Du in deinem Artikel schreibst, lehnen wir uns doch ab und an bequem zurück in eine konsumierende Haltung, ich glaube auch, dass es einem systemisch abtrainiert wird, gerade in der schulischen Ausbildung und in manchen beruflichen Umfeldern.
Euch ist es bestimmt auch schon oft ergangen wie mir. Man sitzt in einer Runde und hat eine brennende Frage, aber denkt sich sowas wie „ich bin bestimmt die Einzige die das nicht weiß“ oder „das ist bestimmt so eine einfache und blöde Frage, dass ich den anderen damit die Zeit stehle“. Wenn man sich dann endlich dazu überwunden hat die Frage doch zu stellen, dann kommt doch oft Feedback aus der Runde wie „gute Frage, das würde ich auch gerne wissen“ oder „das interessiert mich auch“…
Erinnert auch an diese Momente, denn sie verdeutlichen uns, dass es keine dummen Fragen gibt!
Es ist sicherlich machmal unbequemer Fragen zu stellen, aber glaubt mir es ist es sowas von Wert die Komfortzone zu verlassen! Mit der learn-it-all Haltung, könnt ihr nicht nur mehr lernen und ganz andere Perspektiven einnehmen, sonder auch euch neu kennenlernen!
Wir können bei uns selbst anfangen, nur wir können uns direkt ändern. Und genau hier liegt meines erachtens auch der Schlüssel, bei uns selbst anzufangen und so mit gutem Beispiel als true leader voranzugehen und mit etwas Geduld andere Menschen zu inspieren, wiederum bei sich selbst anzufangen Fragen zu stellen.
Damit zu starten Frage zu stellen, vielleicht auch, oder gerade in einem Umfeld in dem es nicht üblich war/ist, dass Fragen gestellt werden und so die Lanze für die anderen Menschen in dem Umfeld zu brechen. Anfangen und den neuen Pfad in diesem Umfeld zu gehen und immer mehr und mehr auszutreten, sodass es für die anderen einfacher wird diesen ebenfalls mitgehen und selbst gehen zu können.
Nicht auf jemanden oder etwas zu warten, sondern hier und jetzt mit sich selbst anzufangen.
Die Initiative ergreifen und zeigen, dass es nicht schlimm ist, etwas nicht zu wissen oder etwas zu fragen. Ganz im Gegenteil, dass man am Ende sogar mehr weiß, eine höhere Akzeptanz, ein besseres gemeinsames Verständnis oder eine bessere Lösung hat.
Keep on asking :-)
Liebe Grüße
Melanie
Liebe Melanie, vielen Dank für deine Ergänzung. Die Angst, sich zu blamieren ist sicherlich ein großes Problem. Sie zeigt aber eben auch nur ein Defizit an psychologischer Sicherheit.