Offensichtlich, kompliziert oder doch komplex?

Das Cyne­fin-Frame­work von Dave Snow­den bie­tet einen sys­tem­theo­re­ti­schen Rah­men zur Ein­ord­nung von Situa­tio­nen und das jeweils pas­sen­de Vor­ge­hen zur Ent­schei­dungs­fin­dung (vgl. Snow­den & Boo­ne, 2007). Grund­le­gend dafür ist ein fun­dier­tes Ver­ständ­nis der Kate­go­rien des Frame­works. Dabei hilft ins­be­son­de­re die genau Betrach­tung der Unter­schie­de und Über­gän­ge zwi­schen den drei im prak­ti­schen All­tag domi­nan­ten Kate­go­rien: Was unter­schei­det eine offen­sicht­li­che Situa­ti­on von einer kom­pli­zier­ten? Und wann wird es kom­plex?

Cyne­fin-Frame­work (Snow­ded – Own work, CC BY-SA 3.0)

Unbewusste Inkompetenz

Der Über­gang von offen­sicht­lich zu kom­pli­ziert kann als der Hori­zont des eige­nen Wis­sens gese­hen wer­den. Ob jemand etwas als offen­sicht­lich oder kom­pli­ziert ansieht, hängt immer von des­sen Wis­sen ab. Ein Uhr­werk ist für mich kom­pli­ziert, für einen Uhr­ma­cher nicht. Beim Com­pu­ter ist es viel­leicht genau umge­kehrt: Für mich weni­ger kom­pli­ziert als für den Uhr­ma­cher. Die Gren­ze zwi­schen die­sen bei­den Kate­go­rien ver­läuft also zwi­schen den „known knowns“ und den „unknown knowns“ wie es Dave Snow­den aus­drückt (vgl. Snow­den & Boo­ne, 2007). Die Situa­ti­on lässt sich ver­ste­hen und es las­sen sich Ant­wor­ten fin­den, aber es sind viel­leicht nicht immer die Stan­dard­ant­wor­ten aus der Schub­la­de, die „best-prac­ti­ces“, son­dern es bedarf einer tie­fe­ren Ana­ly­se durch Exper­ten, um sie zu finden.

Wenn mein Auto plötz­lich nicht mehr ruhig fährt, wür­de ich zunächst die offen­sicht­li­chen Mög­lich­kei­ten eines Lai­en durch­ge­hen: Hat es noch genug Treib­stoff, haben alle Rei­fen genü­gend Luft, usw. Wenn das alles kei­ne Lösung bringt, brau­che ich einen KFZ-Meis­ter. Wenn mein Com­pu­ter lang­sam läuft, gehe ich die Lis­te der Pro­zes­se durch, been­de den einen oder ande­ren oder star­te neu (die best-prac­ti­ce schlecht­hin bei Win­dows). Wenn das aber alles nicht hilft, brau­che ich den Rat eines Exper­ten (oder einen Mac).

Wie erken­ne ich aber, dass ich mit mei­nem Latein am Ende bin und lie­ber einen Exper­ten hin­zu­zie­hen soll­te? Woher weiß ich, was ich wirk­lich weiß bzw. eben nicht weiß? Und schaf­fe ich es mir ein­zu­ge­ste­hen, dass eine Situa­ti­on mei­ne Fähig­kei­ten über­steigt? Heik­le Fra­gen, auf die wir Men­schen nicht ger­ne ehr­li­che Ant­wor­ten geben. Die wenigs­tens sind so wei­se wie Sokra­tes, der fest­stell­te: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ 

Tat­säch­lich nei­gen wir dazu, uns auf­grund von ers­tem grund­le­gen­den Ver­ständ­nis dra­ma­tisch zu über­schät­zen. Unse­re Inkom­pe­tenz ist grund­sätz­lich unbe­wusst, wie Dave Dun­ning in (Mor­ris, 2010) erklärt: „when you’re incom­pe­tent, the skills you need to pro­du­ce a right ans­wer are exact­ly the skills you need to reco­gni­ze what a right ans­wer is.“ Die­ser nach sei­nen bei­den Ent­de­ckern benann­te Dun­ning-Kru­ger-Effekt (vgl. Kru­ger & Dun­ning, 1999) begüns­tigt das frucht­lo­se Her­um­pro­bie­ren mit Patent­re­zep­ten in Situa­tio­nen, die längst eine tie­fe­re Ana­ly­se durch ech­te Exper­ten benö­tigt hätten.

Wenn das Ganze mehr ist als die Summe der Teile

Auch wenn es in der All­tags­spra­che ger­ne so genutzt wird, ist kom­pli­ziert nicht ein­fach die klei­ne Schwes­ter von kom­plex (vgl. Haber­mann & Schmidt, 2021, S. 50). Der Unter­schied zwi­schen kom­pli­ziert und kom­plex ist wie der Unter­schied zwi­schen einem Fer­ra­ri und dem Regen­wald (vgl. Snow­den & Boo­ne, 2007). Der Fer­ra­ri lässt sich als kom­pli­zier­tes Gerät zer­le­gen und – das ist ent­schei­dend – über die Funk­ti­on der Kom­po­nen­ten ver­ste­hen. Das heißt, das Ver­hal­ten eines Fer­ra­ris ist deter­mi­nis­tisch. Wenn ich das Gas­pe­dal drü­cke, grei­fen die ent­spre­chen­den Kom­po­nen­ten in geplan­ter Wei­se inein­an­der und das Auto beschleu­nigt. Wenn das nicht der Fall ist, ist es kaputt und muss repa­riert wer­den. Im Wesent­li­chen ist das Gan­ze aber die Sum­me der Tei­le. Das Ver­hal­ten eines kom­pli­zier­ten Sys­tems ist vor­her­sag­bar und wenig überraschend.

Auch der Regen­wald besteht aus vie­len ein­zel­nen Ele­men­ten und Ein­fluss­grö­ßen, aller­dings ist die Dyna­mik die­ser Ele­men­te zuein­an­der und mit­ein­an­der eine ganz ande­re als beim Fer­ra­ri und genau das macht den Unter­schied. Kom­plex wird es immer dann, wenn die Men­ge, Anord­nung und Bezie­hung von größ­ten­teils auto­nom agie­ren­den Sys­tem­ele­men­ten per­ma­nent im Fluss ist (vgl. Lam­bertz 2019, S. 40 – 41). Das Ver­hal­ten eines sol­chen kom­ple­xen Sys­tems lässt sich dann genau nicht mehr über sei­ne Kom­po­nen­ten erklä­ren, son­dern es ent­ste­hen Mus­ter nicht-deter­mi­nis­tisch aus den Inter­ak­tio­nen: „it’s per­for­mance is never equal to the sum of the actions of its parts taken sepa­ra­te­ly; it is a func­tion of their inter­ac­tions“ (Ack­off, 1994, S. 180)

Das Cyne­fin-Frame­work beschreibt kom­ple­xe Situa­tio­nen ent­spre­chend als den Bereich der „unknown unknowns“ (Snow­den & Boo­ne, 2007). Ursa­che und Wir­kung kön­nen hier immer erst rück­bli­ckend und makro­sko­pisch bezo­gen auf Ver­hal­tens­mus­ter und Wirk­zu­sam­men­hän­ge und eben nicht ana­ly­tisch und mikro­sko­pisch aus den ein­zel­nen Ele­men­ten her­aus ver­stan­den wer­den. Neu­ro­wis­sen­schaft­ler ver­ste­hen zwar Auf­bau und Funk­ti­ons­wei­se des Gehirns sehr gut, sind dadurch aber auch nicht bes­ser als ich in der Lage Gedan­ken vor­her­zu­sa­gen. Durch psy­cho­lo­gi­sche Expe­ri­men­te las­sen sich den­noch auf makro­sko­pi­scher Ebe­ne ver­schie­de­ne Denk­mus­ter nach­wei­sen, wie bei­spiels­wei­se den vor­her erwähn­ten Dunning-Kruger-Effekt.

Die Gren­ze zwi­schen kom­pli­ziert und kom­plex ver­läuft also zwi­schen vor­her­sag­bar und über­ra­schend, zwi­schen sta­tisch und dyna­misch und letzt­lich zwi­schen tot und leben­dig. Der erfolg­rei­che Umgang mit Kom­ple­xi­tät bedingt einen Wech­sel der Metho­de von Ana­ly­tik zu Empi­rie. Ver­hal­ten und Kau­sa­li­tä­ten las­sen sich nicht mehr rein ana­ly­tisch durch Zer­le­gen in Kom­po­nen­ten bestim­men, son­dern kön­nen nur über geeig­ne­te Hypo­the­sen und Expe­ri­men­te zu ihrer Veri­fi­ka­ti­on oder Fal­si­fi­ka­ti­on, ver­stan­den und beschrieben. 

Da Unter­neh­men in der Regel aus vie­len Men­schen und funk­tio­na­len Ein­hei­ten bestehen und Pro­duk­te für glo­ba­le Märk­te machen, die wie­der­um aus vie­len Akteu­ren bestehen und vie­len Ein­fluss­grö­ßen unter­lie­gen, wer­den die weit­aus meis­ten Situa­tio­nen eher kom­ple­xer Natur sein. Umfas­sen­de Ana­ly­sen hel­fen hier und heu­te nur noch bedingt. Gefragt ist viel­mehr ein empi­ri­sches agi­les Vor­ge­hen, mit dem in mög­lichst kur­zen Ite­ra­tio­nen Ideen in rea­lem Umfeld vali­diert oder fal­si­fi­ziert werden. 

Die Lie­be zur Ana­ly­se (gera­de bei Inge­nieu­ren) einer­seits und ande­rer­seits der Hang in Unter­neh­men zum plan­ge­trie­be­nen Vor­ge­hen, das in den sta­ti­sche­ren Märk­ten der Ver­gan­gen­heit noch funk­tio­niert hat, ver­lei­tet dazu, eine Situa­ti­on wei­test­ge­hend ana­ly­tisch ver­ste­hen zu wol­len bevor eine Ent­schei­dung getrof­fen wer­den kann. Das führt zu Über­ana­ly­se der Details, die aber kei­ne neu­en Erkennt­nis­se in Bezug auf mög­li­che Wirk­zu­sam­men­hän­ge und Ver­hal­tens­mus­ter mehr bringt. Ein wesent­li­ches Hin­der­nis für die drin­gend benö­tig­te Agi­li­tät in Unter­neh­men liegt dar­in, dass die­se Gren­ze zwi­schen kom­pli­ziert und kom­plex nicht erkannt oder ein­ge­stan­den wird. 

Literatur

Ack­off, R. L. (1994). Sys­tems thin­king and thin­king sys­tems. Sys­tem Dyna­mics Review, 10(2 – 3), 175 – 188. https://doi.org/10.1002/sdr.4260100206

Haber­mann, F., & Schmidt, K. (2021). Hey, nicht so schnell! Wie du durch lang­sa­mes Den­ken in kom­ple­xen Zei­ten zu guten Ent­schei­dun­gen gelangst. Gabal Ver­lag GmbH.

Kru­ger, J., & Dun­ning, D. (1999). Unskil­led and una­wa­re of it: How dif­fi­cul­ties in reco­gni­zing one’s own incom­pe­tence lead to infla­ted self-assess­ments. Jour­nal of Per­so­na­li­ty and Social Psy­cho­lo­gy, 77(6), 1121 – 1134. https://doi.org/10.1037/0022 – 3514.77.6.1121

Lam­bertz, Mark. 2019. Die intel­li­gen­te Orga­ni­sa­ti­on: das Play­book für orga­ni­sa­to­ri­sche Kom­ple­xi­tät. 2. Auf­la­ge. Göt­tin­gen: BusinessVillage.

Mor­ris, E. (2010, Juni 20). The Anosognosic’s Dilem­ma: Something’s Wrong but You’ll Never Know What It Is (Part 1). Opi­ni­ona­tor. https://opinionator.blogs.nytimes.com/2010/06/20/the-anosognosics-dilemma‑1/

Snow­den, D. J., & Boo­ne, M. E. (2007). A Leader’s Frame­work for Decis­i­on Making. Har­vard Busi­ness Review. https://hbr.org/2007/11/a‑leaders-framework-for-decision-making

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

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