Bisher war hier von Industrieunternehmen die Rede. Automobilhersteller beispielsweise produzieren und verkaufen Autos. Um das tun zu können und kontinuierlich besser tun zu können, werden die Prozesse, die zum Autobau im weitesten Sinne notwendig sind, immer wieder angepasst. Diese Veränderung der Regelarbeit ist dann ein Projekt in dessen Kern dann oft ein IT-Projekt steckt. Projekte sind also die Ausnahme; der Hauptprozess und damit die Regel ist und bleibt die Herstellung und der Vertrieb von Autos. Das Schema lässt sich leicht auf andere Unternehmen und andere Branchen übertragen: Versicherungen verkaufen und verwalten Versicherungen, Banken verwalten und verleihen Geld. Das Projekt ist dort nicht der primäre Unternehmensgegenstand sondern dient nur der Veränderung des Unternehmens. Auf der anderen Seite stehen Unternehmen der Dienstleistungsbranche deren primärer Unternehmensgegenstand die Durchführung eines Auftrags oder eines Projekts ist. IT-Dienstleister beispielsweise führen IT-Projekte durch im Auftrag eines anderen Unternehmens, beispielsweise eines Automobilhersteller. Die Frage ist nun: Wenn der Automobilhersteller sozusagen im Kern aus Automobil besteht, aus was besteht dann der IT-Dienstleister im Kern?
Auch wenn diese Unterscheidung auf den ersten Blick ein wenig spitzfindig klingt, Menschen brauchen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem sozialen System wie einem Unternehmen. In klassischen produzierenden Unternehmen bildet das Produkt das Gravitationszentrum für diese Zugehörigkeit und ist oft der ganze Stolz der Mitarbeiter. Bei einem reinen Dienstleistungsunternehmen wie einem IT-Dienstleister ist dieser greifbare Kern nicht automatisch gegeben, weil es kein Produkt gibt.
Ein IT-Dienstleister ist zunächst nur ein loser Haufen von Spezialisten. Diese arbeiten für eine gewisse Zeit und vielleicht immer wieder einmal zusammen in einem Projekt. In welchem, in welcher Rolle und wie lange bestimmt der Kunde oder das höhere Management (stets dem Ziel der möglichst hohen Auslastung folgend). Nicht selten sind die Mitarbeiter am Standort und in den Räumen des Kunden eingesetzt. Dass dabei dann oft die Bindung der Mitarbeiter des IT-Dienstleisters zum Kunden die zum eigenen Arbeitgeber übersteigt, muss nicht wirklich verwundern. Genauso wenig dass die Mitarbeiter in der Folge nicht selten zum Kunden wechseln.
Nun kann man als IT-Dienstleister diesen Umstand eines fehlenden Gravitationszentrums der Zugehörigkeit einfach als in der Natur der Sache liegend akzeptieren. Dann muss nur für kontinuierlichen Nachschub an frischen Mitarbeitern gesorgt werden, um die bewusst in Kauf genommene Fluktuation auszugleichen. Diese frischen Mitarbeiter sollten dann relativ jung und günstig sein, weil sich sonst ihre Einarbeitung bei relativ kurzer Verweildauer im Unternehmen nicht rechnet. Dieses Modell des Durchlauferhitzers funktioniert in der IT aber sicherlich nur bedingt aufgrund des allgegenwärtigen Fachkräftemangels.
Alternativ kann und sollte ein IT-Dienstleister besser versuchen ein Gravitationszentrum bewusst anzubieten. Gefragt ist ein gemeinsamer Kern oder Vision, wozu sich die Mitarbeiter mit Stolz bekennen können und zugehörig fühlen können. Ein Ansatz wäre beispielsweise das Modell »Kaderschmiede« in dem das Top-Expertentum das Gravitationszentrum bildet: Wer bei diesem IT-Dienstleister arbeitet gehört zu den Besten der Besten. Punkt. Schließlich sind viele der Mitarbeiter ja gerne Experte, wenden ihr Expertenwissen gerne an, probieren gerne Neues aus, bilden sich gerne weiter und reiben sich gerne mit anderen Top-Experten, wie es auch schon Steve Jobs richtig erkannt hatte:
It’s too easy, as a team grows, to put up with a few B players, and they then attract a few more B players, and soon you will even have some C players. The Microsoft experience taught me that A players like to work only with other A players, which means you can’t indulge B players.
Steve Jobs
In diesem Modell kommt der Mitarbeiterauswahl und der Mitarbeiterentwicklung eine zentrale Bedeutung zu. Mitarbeiter mit hohem Potential findet man nicht einfach zufällig und sie entwickeln sich auch nicht einfach Mal zu Top-Experten. Es muss eine Vielzahl an Weiterbildungsmöglichkeiten geben und Zeit zum Austausch der Erfahrungen untereinander. Und noch wichtiger: es muss dem Einzelnen genügend Zeit zur Weiterentwicklung zur Verfügung stehen. Und zwar Zeit über die der einzelne selbst bestimmen kann, beispielsweise indem 10% der Arbeitszeit frei nutzbar sind.
Fazit
Während also viele Unternehmen über die Vielzahl an Projekten klagen und das damit einhergehende schwierige Ausbalancieren von Linienarbeit und Projektarbeit, haben IT-Dienstleister (und andere Unternehmen der Beratungs- und Dienstleistungsbranche) eine ganz andere Herausforderung zu stemmen: Wo es nur Projekte im Auftrag von Kunden gibt, muss ein Gravitationszentrum als verbindendes Element bewusst und mit Bedacht erzeugt werden, um den Mitarbeitern etwas anzubieten wozu sie sich mit Stolz zugehörig fühlen können.
Foto: Das Artikelbild wurde von Marcos Leal unter dem Titel „Army“ auf Flickr unter einer Creative Commons CC BY 2.0 Lizenz veröffentlicht.
8 Kommentare
SW-Entwicklung als Dienstleistung ist mir ein zu enger Fokus. Zusätzlich zu betrachten sind die Entwicklung SAMT Unterhalt umfassender Individuallösungen und Entwicklung SAMT Unterhalt von plattformbasierten Lösungen. Diese zwei zusätzlichen Szenarien haben klare „Gravitationszentren“ in Gestalt von „Value Streams“ und viel mehr kontinuierliche Arbeiten innerhalb sehr langer Produktlebenszyklen, die nicht projektgetrieben sind.
Leider ist der Fokus aber bei vielen IT-Dienstleistern so eng und teilweise noch enger: manchen entwickeln nur, manche betreiben nur, manche machen nur die Wartung. Und diese Trennung wird ganz bewusst von manchen Kunden, gerade aus der Automobilbranche ganz bewusst gefördert um Konkurrenz bei den Lieferanten aufzubauen.
Wieder mal ein Kommentar von mir. Der Stil und der Inhalt des Textes lösen bei mir positive Emotionen und Denkprozesse aus, die ich gern über den Zaun werfen möchte.
Legt man die Philosphie der Tätigkeiten des Menschen der Vita activa nach Hannah Arendt zu Grunde, befinden sich die klassischen Unternehmen im Modus „Herstellen“. Damit ist vorgegeben, dass es ein Gravitationszentrum aus Maschinen und festen Strukturen gibt, die irgendetwas ausspucken, das auf der Welt greifbar wird. Der Dienstleister jedoch geht in den Modus des Handelns über. Er spricht und verändert die Welt, ohne dabei fertige Modelle oder Strukturen bemühen zu müssen. Er verändert die Beziehungen zwischen Menschen und Menschen bzw. Dingen und Menschen. Dabei wird er manchmal herstellend tätig. Das passiert, wenn sich ein Gespräch in einem Aktenvermerk materialisiert.
Der Dienstleister lebt davon, dass er die Ressourcen des Kunden mit seinem Selbst mischt. Dabei wird auch der Dienstleister selbst verändert und vor allem seine Beziehung zum Kunden. Im Dienstleistungsmanagement spricht man hier auch vom „substitute of leadership“. Der Mitarbeiter ist dem Kunden gegenüber loyaler als dem eigenen Arbeitgeber, der ihm seinen Lohn gibt.
Ich halte mich da an die Balance der Widersprüche durch Relation-Based-Organizing. Da ist eben auch die Balance zwischen DL und Kunden einerseits sowie AG und AN andererseits zu erhalten. Regelmäßige Supervision des Dienstherrn für seine Satelliten beim Kunden halte ich für ein wunderbares Werkzeug. Dazu muss die Führungskraft (hier der Organizer) natürlich ausgebildet sein. Die Vertrauensbasis zwischen Supervisor und Supervident darf aber eben nicht zur Frage nach der Höhe der nächsten Rechnung missbraucht werden. Auch hier braucht es viel Balance. Die Entwicklung und das sich permanent wiederholende Recruiting des schon Angestellten (Beziehungspflege) erzeugen eine Substanz, die eine hohe Gravitationskraft erzeugt. Soweit für heute. ich freu mich auf die nächste Anregung.
Vielen Dank für diesen Kommentar. Sehr schön stellen Sie nochmals den prinzipiellen Widerspruch dar, dass ein Mitarbeiter eines Dienstleisters dem Kunden gegenüber loyaler ist als dem eigenen Arbeitgeber gegenüber. Hier gilt es tatsächlich die Balance herzustellen. Die Idee der regelmäßigen Supervision, die eben nicht missbraucht werden darf um rein über Auslastung und Neuaufträge zu reden, sondern der Beziehungspflege zu dienen hat. Neben dem bewussten Herstellen eines Gravitationszentrums und gemeinsamen nutzenstiftenden Erlebnissen, wie von Franziska angeregt, halte ich die Supervision und Beziehungspflege für einen sehr wichtigen Baustein in dem Spiel. Danke!
Der Vergleich ist spannend. Ich finde auch gut, schwarz-weiß zu malen, um die Unterschiede deutlicher herausarbeiten zu können. Aus meiner Erfahrung heraus, gibt es jedoch nur noch wenige Produkte „Out of the box“ bei dem der für Industrie-Unternehmen beschriebene Fall oben zutrifft. Es sind eher die Dinge des täglichen Bedarfs. Massenware.
Schaue ich mir hingegen zum Beispiel den Bereich der (erklärungsbedürftigen) Investitionsgüter an, so ist jede Markteinführung und zu einem Gutteil auch die Marktbearbeitung ein Projekt-getriebenes Geschäft. Es geht dabei stets darum, aus dem modularen Baukasten an Komponenten die Lösung (im Sinne eines Systems) in enger Abstimmung mit den Bedürfnissen des Kunden zu entwickeln und umzusetzen. Das betrifft dann alle Abteilungen quer durch das ganze Unternehmen.
Und dann stehen Industrie-Unternehmen vor denselben Herausforderungen, die Du oben beschreibst:
– zu viele Projekte gleichzeitig
– zu wenig Flexibilität, sich dynamisch an die veränderten Gegebenheiten anpassen zu können
– Projekt-Mitarbeiter, die zwischen die Interessen zweier Unternehmen geraten (das Stammhaus – der Kunde) und Gravitation von beiden Seiten empfinden oder dazwischen zerrieben werden
– Projekt-Mitarbeiter, die sich aus Abteilungsdenke lösen müssen und „Projekt-orientiert“ denken sollen, gleichzeitig in der Abteilung oder auch Matrix gebunden sind (also Diener vieler Herren sind)
– Projekt-Mitarbeiter, die sich zunehmend schwer mit ihrer Rolle, ihren Entscheidungsspielräumen und dem Sinn ihrer Aufgaben tun (oftmals noch zusätzlich verstärkt durch Konzern-Tochtergesellschafts-Strukturen auf internationalem Parkett)
Meiner Meinung nach lassen sich diese Herausforderungen nur meistern über ein hohes Maß an Selbstorganisation in Verbindung mit kulturell intensiven, nutzenstiftenden, gemeinsamen Erlebnissen (z. B. firmeninternen BarCamps).
Vielen Dank für Deinen ergänzenden Kommentar, Franziska! Natürlich habe ich das bewusst schwarz-weiß gezeichnet. Entspricht aber in großen Teilen meiner Erfahrungswelt, die einerseits aus IT-Dienstleister und andererseits aus Automobilherstellern besteht. Und da ist der beschriebene Unterschied wirklich so deutlich spürbar. Die Autobauer sind oft auch bis zur entferntesten Abteilung sehr stolz auf Ihre Produkte und identifizieren sich damit und den IT-Dienstleistern fehlt oft der Zusammenhalt. Natürlich sieht das in anderen Branchen oder in anderen produzierenden Unternehmen anders aus und ist nicht ganz so trennscharf. Dein Beispiel von den Investitionsgütern ist da ein sehr gutes. Das Produkt steht da gar nicht mehr so im Vordergrund, sondern eher die Dienstleistung dieses beim Kunden einzuführen und anzubinden. Insofern befinden sich diese Unternehmen in einem Zwischenstadium von Dienstleister und Produkthersteller und habe da sicherlich genau die gleichen Schwierigkeiten der Identifikation wie andere Dienstleister auch.
Dem kann ich nur voll und ganz zustimmen. Selbstorganisation hatte ich ja auch identifiziert, aber gerade die gemeinsamen Erlebnisse finde ich ebenfalls sehr wichtig. Danke!
Hallo Herr Dr. Raitner,
ein toller Artikel! Ich war früher IT-Services-Analyst und habe untersucht, wie große IT-Dienstleister wie IBM Services oder beispielsweise T‑Systems arbeiten, war ihre Strategien sind. Tatsächlich wird praktisch alles zum Projekt, und die Kunden wollen möglichst alles auf Ihre Branche, ihre Prozesse und natürlich ihre eigene Unternehmenskultur zugeschnitten bekommen.
Doch eines versuchen wenigstens die ganz Großen: Eine Art interne „Industrialisierung“. Man lagert als IT-Dienstleister also Teile von gleichzeitig laufenden Kundenprojekten ins (nahe) Ausland aus oder man lässt diese sogar im eigenen Hause und – jetzt kommt der Clou – bringt sie in einen „Standardprozess“, der immer gleich im Hintergrund abläuft. Daher kommt auch die Spezialisierung auf Branchen oder bestimmte Funktionen (wie z.B. App Development, Security und Testing oder Betrieb der gesamten Human Resources IT). Bei den meisten ist allerdings diese Art der Vereinheitlichung gründlich gescheitert – heute ist wieder viel Maßarbeit gefragt.
Wir haben bei uns aber noch etwas ganz anderes gelernt Für besonders kniffelige Aufgaben muss man immer mal wieder einen Experten aus dem Ausland verpflichten. Wenn ich hier einfach niemanden finde, der ein bestimmtes System auf Touren bringen kann, bleibt mir nichts anderes übrig. Wir hier haben es auf die ganz harte Tour gelernt, dass es die Aufgabe des IT-Dienstleisers als Team und Organisation ist, dem extern Eingebundenen Sicherheit zu geben, auch Teillösungen mitzuliefern und ihn mit seinem kulturellen Hintergrund zu verstehen. Uns wurde das endlich glasklar, als ein philippinischer Programmierer sein f e r t i g e s Werk von unserem Server löschte, und sein Honorar zurückzahlte. Wir hatten seine Ehre beleidigt, denn wir hatten seine Fortschritte nicht schnell genug getestet.
Danke für den ausführlichen Kommentar! Projekte und Projektabwicklung als Standardprozess zu sehen klingt grotesk ist aber oft gelebte Praxis. Die logische Konsequenz ist es dann diesen Standardprozess oder einzelne Schritte davon gebündelt einzukaufen am besten en gros wie Schrauben. Besonders wenn die Projekte dann hohen Neuheitsgrad haben, geht das gehörig schief.