Kultur folgt Struktur oder der unverstandene Scrum-Master

Aus sei­ner jahr­zehn­te­lan­gen Erfah­rung mit der agi­len Trans­for­ma­ti­on von Orga­ni­sa­tio­nen und ins­be­son­de­re mit der Ein­füh­rung des von Bas Vod­de und ihm ent­wi­ckel­te Modell LeSS hat Craig Lar­man meh­re­re Beob­ach­tun­gen als „Lar­man’s Laws of Orga­niza­tio­nal Beha­vi­or“ zusam­men­ge­fasst. Die­se „Gesetz­mä­ßig­kei­ten“ beschrei­ben sehr schön in ver­schie­de­nen Facet­ten das Behar­rungs­ver­mö­gen hier­ar­chi­scher Struk­tu­ren, die impli­zit immer danach stre­ben, den Sta­tus quo des mitt­le­ren und des Top-Manage­ments und gene­rell von eta­blier­ten Macht­struk­tu­ren unan­ge­tas­tet zu las­sen. Beson­ders hart trifft das die unver­stan­de­ne und unter­schätz­te Rol­le des Scrum-Masters.

Larman’s Law of Organizational Behavior

Orga­niza­ti­ons are impli­cit­ly opti­mi­zed to avo­id chan­ging the sta­tus quo midd­le- and first-level mana­ger and “spe­cia­list” posi­ti­ons & power structures.

Craig Lar­man. Haupt­satz Lar­man’s Law

Im ein­fachs­ten Fall bleibt die Trans­for­ma­ti­on halb­her­zig: ein biss­chen Ali­bi-Agi­li­tät mit weni­gen agi­len Teams und ein paar agi­len Pro­jek­ten in einer ansons­ten unver­än­der­ten Orga­ni­sa­ti­on. Aber auch vie­le agi­le Teams und vie­le sol­cher Pro­jek­te in ansons­ten star­rer Struk­tur und unver­än­der­ten Abläu­fen blei­ben noch weit hin­ter den Mög­lich­kei­ten zurück. Was frü­her oder spä­ter natür­lich auch auffällt.

Quel­le: Geek & Poke

Dann folgt die Pha­se des Eti­ket­ten­schwin­dels und des Car­go-Kults. Rol­len und Abläu­fe wer­den ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te auf agil umge­stellt. Aus dem Pro­jekt­lei­ter wird der Pro­duct-Owner, aus dem Pro­ject Manage­ment Office (PMO) wird der Scrum Mas­ter und aus der losen Ansamm­lung von Spe­zia­lis­ten im Pro­jekt­team wird kur­zer­hand das Fea­ture-Team.

Und weil man schon so schön in Fahrt ist und weil die agi­len Metho­den so hip sind, bekommt ein­fach alles einen agi­len Anstrich: agi­le Len­kungs­krei­se, agi­le Ent­schei­dungs­gre­mi­en, agi­le Ent­wick­lung von Pro­zess­mo­del­len, usw. Anstatt die ver­krus­te­ten Struk­tu­ren und Abläu­fen zu hin­ter­fra­gen, wer­den sie ein­fach „agi­li­siert“. Same same but dif­fe­rent. Maslows Ham­mer läßt grü­ßen. Ent­spre­chend lau­tet die ers­te Fol­ge­rung aus dem Haupt­satz von Craig Larman: 

As a corol­la­ry, any chan­ge initia­ti­ve will be redu­ced to rede­fi­ning or over­loa­ding the new ter­mi­no­lo­gy to mean basi­cal­ly the same as sta­tus quo.

Craig Lar­man. Ers­tes Korollar 

Der unverstandene Scrum-Master

Im fort­ge­schrit­te­nen Sta­di­um der agi­len Trans­for­ma­ti­on wird auch über Rol­len und ihre schär­fe­re Unter­schei­dung im Sin­ne der Gewal­ten­tei­lung dis­ku­tiert. Anstatt alles in der einen Rol­le des Chefs zu ver­mi­schen, wer­den dann die­se Aspek­te von Füh­rung unter­schie­den: Das Team orga­ni­siert sich mög­lichst selbst und braucht kei­nen Mana­ger, der Pro­duct-Owner sorgt für die Rich­tung und den Sinn und der Scrum Mas­ter küm­mert sich um das Team, sei­ne Zusam­men­ar­beit inklu­si­ve sei­ner pro­duk­ti­ven Ein­bet­tung in die rest­li­che Orga­ni­sa­ti­on. Der Vor­ge­setz­te im dis­zi­pli­na­ri­schen Sin­ne kommt in Scrum nicht vor und der Grad in dem er über­flüs­sig wird, kann durch­aus als Mess­grö­ße für die Agi­li­tät einer Orga­ni­sa­ti­on gese­hen werden. 

Aus ver­schie­de­nen nicht zuletzt for­ma­len Grün­den wird es einen dis­zi­pli­na­risch Vor­ge­setz­ten brau­chen. Und die­ser kann in dem Spiel auch eine sehr sinn­vol­le Auf­ga­be über­neh­men, näm­lich sich um die Men­schen und ihre indi­vi­du­el­le Ent­wick­lung im Sin­ne des Mani­fests für mensch­li­che Füh­rung (Ama­zon) zu küm­mern. Wäh­rend der Scrum-Mas­ter dem Wir hilft, dient der Chef dem Ich und der Pro­duct-Owner sorgt für das rich­ti­ge Wozu. Und für das Wie bleibt das Team verantwortlich.

Im Zuge der Auf­fä­che­rung von Füh­rung in die­se vier Dimen­sio­nen schlägt Lar­man’s Law gna­den­los zu und trifft am här­tes­ten die Rol­le des Scrum Mas­ters. Nicht weil sie schwe­rer zu ver­ste­hen wäre, son­dern weil sie am wenigs­ten dem Gewohn­ten und Bekann­ten ent­spricht. Fach­li­che Füh­rung ken­nen vie­le in Pro­jek­ten und erken­nen im Pro­jekt­lei­ter den Pro­duct-Owner. Teams gab es auch immer, wenn auch weni­ger auto­nom und für den Vor­ge­setz­ten blei­ben dann ein­fach sei­ne bis­he­ri­gen Auf­ga­ben minus der fach­li­chen Füh­rung und minus der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on des Teams.

Fügt man nun noch den Scrum Mas­ter in die­se Rech­nung ein, wird es kri­tisch für das Selbst­wert­ge­fühl von jah­re­lang in hier­ar­chi­schen Orga­ni­sa­tio­nen sozia­li­sier­ten Mana­gern. Ent­spre­chend wird der Scrum Mas­ter im schlimms­ten Fall zum Sekre­tär, Haus­mäd­chen oder PMO degra­diert (ver­wal­tet JIRA, schreibt Pro­to­kol­le und besei­tigt Hin­der­nis­se) und im bes­ten Fall zum ver­län­ger­tem Arm des Chefs als „Team­lei­ter“ (weil der Chef auf­grund sei­ner redu­zier­ten inhalt­li­chen Auf­ga­ben nun ja mehr Men­schen füh­ren muss). 

Wenn der Scrum-Mas­ter und das Team den­sel­ben Chef haben (und der auch noch den Pro­duct-Owner führt) wird er nie kraft­voll die sys­te­mi­sche Per­spek­ti­ve ein­neh­men kön­nen, die ihm der Scrum Gui­de aus gutem Grund expli­zit zuschreibt: „Der Scrum Mas­ter hilft den­je­ni­gen, die kein Teil des Scrum-Teams sind, zu ver­ste­hen, wel­che ihrer Inter­ak­tio­nen mit dem Team sich hilf­reich aus­wir­ken und wel­che nicht.“ Es ergibt sich ein Teu­fels­kreis, weil die­je­ni­gen, die das Sys­tem und die Zusam­men­ar­beit opti­mie­ren soll­ten, es nicht kön­nen und dür­fen. Für den Fall, dass eini­ge ver­we­ge­ne Scrum Mas­ter das erken­nen und auch anspre­chen, hält Craig Lar­man auch noch eine pas­sen­de Fol­ge­rung bereit: 

As a corol­la­ry, any chan­ge initia­ti­ve will be der­i­ded as “purist”, “theo­re­ti­cal”, “revo­lu­tio­na­ry”, „reli­gi­on“, and “nee­ding prag­ma­tic cus­to­miza­ti­on for local con­cerns” — which deflects from addres­sing weak­ne­s­ses and manager/specialist sta­tus quo.

Craig Lar­man. Zwei­tes Korollar 

Fort­ge­schrit­te­ne agi­le Orga­ni­sa­tio­nen kenn­zeich­nen sich durch drei­er­lei. Ers­tens durch eine hohe Sub­si­dia­ri­tät im Sin­ne der Ent­schei­dungs­frei­heit der Pro­duct-Owner. Zwei­tens durch eine hohe Auto­no­mie der Teams. Und drit­tens durch eine hohe Unab­hän­gig­keit der Scrum Mas­ter, die dazu (wie die Hof­nar­ren im Mit­tel­al­ter) mög­lichst gut vom Rest der Hier­ar­chie sepa­riert wer­den müssen. 

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Von Marcus Raitner

Hi, ich bin Marcus. Ich bin der festen Überzeugung, dass Elefanten tanzen können. Daher begleite ich Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Agilität. Über die Themen Führung, Digitalisierung, Neue Arbeit, Agilität und vieles mehr schreibe ich seit 2010 in diesem Blog. Mehr über mich.

5 Kommentare

Clas­sic!
Vie­len Dank Marcus.

Zum The­ma „Busi­ness Agi­li­ty“, die aus dem Zusam­men­spiel meh­re­rer agil ope­rie­ren­der Teams fol­gen könn­te, hat mir der Ansatz von Klaus Leo­pold geholfen.
https://commodus.org/agile21-agilitat-neu-denken

Klaus kommt ja eher aus der „Lean-Ecke“. Er ist daher prag­ma­tisch gegen­über Kan­ban, Scrum oder OKR. Was hilft, hilft.

Dan­ke, Alex­an­der. Klaus Leo­pold habe ich letz­ten Novem­ber in Nürn­berg getrof­fen. Ich schät­ze ihn sehr und hal­te sei­nen Ansatz für sehr brauchbar.

Vie­len dank, Mar­cus! Ein tref­fen­der Beitrag.
Ich den­ke vie­le fin­den sich in die­sem Arti­kel ziem­lich gut getrof­fen. Was man mit­neh­men kann, ist, damit ein Bewusst­sein für das Manage­ment und das Team für die­sen Sta­tus quo zu schaffen.
Was mir aller­dings fehlt sind auch Ansät­ze aus die­sem Zustand her­aus­zu­kom­men. Viel­leicht kann hier jemand über Erfah­run­gen dazu schrei­ben? Hat sich jemand bereits aus die­sem Zustand „befrei­en“ kön­nen? Wenn ja, wie?

Hal­lo Herr Kroll,
ein Patent­re­zept gibt es da mei­ner Mei­nung nicht, um „aus die­sem Zustand“ raus­zu­kom­men. Ich mache gute Erfah­run­gen mit dem Ansatz ver­ste­hen zu wol­len. Also mit den Men­schen zu reden in der Absicht ihr Ver­hal­ten und die dahin­ter lie­gen­den Beweg­grün­de zu ver­ste­hen. Ent­schei­dend ist hier, dass ich vor­her mei­ne Hal­tung über­prü­fe, ob ich wirk­lich offen in das Gespräch gehe oder es mir dar­um geht, mein Gegen­über von etwas ande­rem über­zeu­gen zu wol­len. Letz­te­res wür­de er/sie mer­ken und direkt in die Abwehr­hal­tung gehen. Wenn es aber ein offe­ner Dia­log ist, dann kann gegen­sei­ti­ges Ver­ständ­nis erreicht wer­den und über die Zeit (!) bewegt sich etwas.

Für mich ist ein Schlüs­sel in der Rol­le des Scrum-Mas­ters, die mög­lichst unab­hän­gig ange­legt sein muss. Dar­um ver­glei­che ich die­se Rol­le auch mit dem Hof­nar­ren … und das ist eben auch eine kul­tu­rel­le Fra­ge … ein Teufelskreis.

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